Drama | Deutschland 2006 | 85 Minuten

Regie: Andres Veiel

Filmische Adaption eines dokumentarischen Theaterstücks, in dem die Autoren den Hintergründen eines grausamen Verbrechens nachspüren, bei dem im Sommer 2002 drei junge Männer in einem Dorf in Brandenburg einen 16-Jährigen bestialisch ermordeten. Mit den Mittel des Brechtschen Theaters entwirft der minimalistische Film ein bedrängendes Mosaik, das die Tat in soziale, politische und historische Kontexte einbindet, ohne sich mit einzelnen Erklärungen zufriedenzugeben. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
nachtaktiv-Film/Journal Film Volkenborn/ZDFtheaterkanal
Regie
Andres Veiel
Buch
Andres Veiel · Gesine Schmidt
Kamera
Jörg Jeshel
Schnitt
Katja Dringenberg
Darsteller
Susanne-Marie Wrage · Markus Lerch
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
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Diskussion

Der Mordfall machte seinerzeit Schlagzeilen: In der Nacht zum 13. Juli 2002 misshandelten die Brüder Marco (23) und Marcel Schönfeld (17) sowie ihr Bekannter Sebastian Fink (17) eine ganze Nacht lang den 16-jährigen Marinus Schöberl, bevor Marcel ihn schließlich auf bestialische Weise durch einen Tritt auf den Hinterkopf tötete. Täter und Opfer kannten sich. Die Tat spielte sich in dem Dorf Potzlow ab, das nicht mehr als 60 Kilometer von Berlin trennen und das doch Welten von der Metropole entfernt scheint. Obwohl sich Phasen der sich über Stunden hinziehenden Mordtat durchaus in der Öffentlichkeit abspielten – die angetrunkenen Jugendlichen besuchten ein Ehepaar und fuhren mit ihren Rädern durchs Dorf –, wurde Marinus’ Leiche erst vier Monate später in einer Jauchegrube gefunden. Die Öffentlichkeit war schockiert, die Staatsanwaltschaft sprach dem Dorf im Brandenburgischen den „zivilisatorischen Standard“ ab. Der Pastor bezeichnete in seiner Trauerrede die Täter als „Kreaturen des Todes“, die Mutter des Opfers nannte sie „Bestien“ und „tickende Zeitbomben“. Die zuständigen Sozialarbeiter reagierten reflexartig – der Fall wurde für die Öffentlichkeit rasch und routiniert abgewickelt. Wer länger und genauer hinschaut, so wie der Filmemacher und studierte Psychologe Andres Veiel sowie die Dramaturgin Gesine Schmidt, der blickt freilich auf ein soziales Szenario, das sich wie ein naturalistisches Drama ausnimmt. Es ist fast schon etwas „too much“, auf was man bei einer eingehenden Recherche in Potzlow stoßen kann: Werteverlust, Alkoholismus, Perspektivlosigkeit, Krebserkrankungen, rechtes Denken, eine Kette von Gewalterfahrungen, die bis zum Einmarsch der Russen 1945 zurückreichen, Nach-Wende-Traumata, Männlichkeitsrituale und schließlich auch noch Medienbilder wie aus „American History X“ (fd 33 545), die beim konkreten Tötungsakt aktualisiert wurden. Alles ist vorhanden, und dennoch passen die Erklärungsmuster nicht so recht. Da ist Sand im Getriebe der Determinanten. Wie bei seinen Filmen „Die Überlebenden“ (fd 32 143) und „Black Box BRD“ (fd 34 861) stellt Veiel die Frage: Wo zieht man den Strich bei der Rekonstruktion eines Verbrechens? Was will man lieber gar nicht wissen? Je tiefer man bohrt, desto größer wird die Unschärfe des Bildes, das keinen Anspruch auf Kausalität mehr erheben will. Dennoch tragen Veiel und Schmidt Schicht um Schicht ab, stoßen auf immer neue Variationen und Irritationen. Was bedeutet es für den Fall, wenn man erfährt, dass der „böse Neonazi“ Marco Jahre zuvor zur Begrüßung in Potzlow von der Dorfjugend öffentlich gedemütigt wurde? Wie bewertet man es, wenn sich die Mutter des Mordopfers nach einem Kondolenzbesuch des Ministerpräsidenten plötzlich beklagt, dass für jeden ermordeten Ausländer ein Kranz niedergelegt würde, während ihr deutscher Junge leer ausgehe. Kurz nach der Beisetzung ihres Sohns erhält die Familie des Opfers eine Aufforderung des Sozialamtes, sich eine kleinere Wohnung zu suchen, weil die Familie einen Abgang zu verzeichnen gehabt habe. Traumatisierungen und deren Versiegelung, wohin man blickt. Der Staat scheint sich in diesem Bereich von seiner sozialen Funktion verabschiedet, sich gänzlich zurückgezogen zu haben. Die Jugendlichen leben gewissermaßen in einem rechtsfreien Raum, die Familie als Sozialisationsinstanz fällt nahezu komplett aus. Doch immer, wenn man denkt, die Puzzle-Teile fügten sich zu einem stimmigen Bild, steuern die Filmemacher dem entgegen, indem sie eine nicht passende Information einspeisen. Es ist gewiss sehr viel Alkohol und Verwahrlosung im Spiel, aber es gibt auch nicht-gewalttätige Familien, Arbeit, Berufsbildungswerke, Lehrstellen. Den Verlust bürgerlicher Werte auf die „Proletarisierung“ der DDR zu schieben, wie es manche Politiker gerne tun, greift zu kurz, wie der Film deutlich zeigt. „Der Kick“ ist eine furchterregende Dokumentation – als Fiktion würde sie einem wohl kein Mensch glauben. Veiel hatte erneut einen bemerkenswerten Riecher dafür, wo sich Recherche lohnt. Der Fall Potzlow ist ein ganz besonderer, der sich gängigen Erklärungsmustern spürbar widersetzt, in dessen Tiefenstrukturen immer wieder neue Konflikte virulent werden. Veiel verarbeitete den Stoff zunächst zu einem Theaterstück; der zugrundeliegende Text wurde im Juni-Heft 2005 von „Theater heute“ abgedruckt. Zwischenzeitlich entstand, ohne Veiels Mitarbeit, eine Hörspielfassung des Theaterstücks, in der wo jede Figur einen Sprecher bekam. Im Gegensatz dazu, lässt Veiel in seinem sehr klugen Film die 19 Rollen von nur zwei Schauspielern sprechen. Daraus entwickelt sich ein minimalistischer, mit Mitteln des Brechtschen Theaters arbeitender Film, der den Schrecken bewusst auf Distanz hält und damit der Analyse des Zuschauers viel Raum gibt. (Eine realistische Inszenierung des Geschehens wäre ohnehin obszön, weil so lediglich das Bild aus „American History X“ verdoppelt worden wäre.) Faszinierend ist zu beobachten, wie die authentischen Texte, die die Schauspieler zu sprechen haben, deren Körper im Spiel gestisch formen. In Veiels Langzeitprojekt einer umfassenden Gewaltgeschichte Deutschlands ist „Der Kick“ ein weiteres irritierendes Mosaikstück, vielleicht sogar die proletarische, ideologisch anders kodierte Kehrseite von „Black Box BRD“. Gespenstisch ist zu beobachten, wie ständig virulente Gewalt in Deutschland immer wieder auf die Zeit vor 1945 weist. Mit seinem insistierenden Blick darauf ist Veiel klar ein Kind der 1970er-Jahre. Sein Film stellt jede Menge unangenehme Fragen und begnügt sich nicht mit vorschnellen, medial und politisch eingespielten Antworten.

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