Ich bin die Andere

- | Deutschland 2006 | 104 Minuten

Regie: Margarethe von Trotta

Eine unter Persönlichkeitsspaltung leidende Frau arbeitet tags als Rechtsanwältin in Frankfurt, verdingt sich nachts jedoch als Hure, die ihren Vater telefonisch über ihre Eskapaden auf dem Laufenden hält. Als sie einer ihrer Freier zur Frau nehmen will, stürzt sie in eine noch tiefere Krise. Romanverfilmung, die das traditionsreiche Doppelgängermotiv aufgreift. Dabei ist der Film an Realismus ebenso wenig interessiert wie an psychologischer Akkuratesse; stilbewusst und mit Mut zur Überzeichnung geht die Inszenierung zu Werke, was visuell betörende Einstellungen generiert. Dabei kann sich der Film freilich nicht vom schwerfälligen Duktus der Vorlage lösen. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Clasart Film
Regie
Margarethe von Trotta
Buch
Peter Märthesheimer · Pea Fröhlich
Kamera
Axel Block
Musik
Christian Heyne
Schnitt
Corina Dietz
Darsteller
Katja Riemann (Carlotta) · August Diehl (Robert Fabry) · Armin Mueller-Stahl (Karl Winter) · Karin Dor (Frau Winter) · Barbara Auer (Fräulein Schäfer)
Länge
104 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Concorde/EuroVideo (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt., dts dt.)
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Langsam und geduldig tastet sich die Kamera an einem roten Gewebe entlang, als wäre dessen Geheimnis mit sanfter Beharrlichkeit zu ergründen. Nach und nach gibt sich der plissierte Stoff als luftiges, mit lila Rüschen besetztes Kleid zu erkennen. Das Bild verschwimmt, um im nächsten Moment auf den Hinterkopf einer blonden Frau zu fokussieren, die in der Badewanne liegt und telefoniert. Das rote Gewand liegt achtlos neben der Wanne: Carolin hat ihr Alter Ego abgelegt, Carlotta, die stets im verruchten feuerroten Kleid, ordinär geschminkt und mit platinblonder Perücke auftritt. Wie jeden Sonntag erstattet Carolin telefonisch Bericht über Carlotta, die als Hure verkleidet auf Männerjagd geht. Wie immer sitzt am anderen Ende der Leitung der herrische Karl Winter, Carolins Vater. Die Kamera fängt den betagten Mann im Rollstuhl, der das Telefonat rücksichtslos beendet, als ihm der Tee serviert wird, als imposanten Schattenriss vorm Fenster ein. Alles andere als hilflos, abhängig und schwach wird der gelähmte Karl Winter inszeniert, im Gegenteil: Dass der erfolgreiche Winzer im Rollstuhl sitzt, steigert noch seine Aura, seine Präsenz und Macht. Das Schicksal jedes Bewohners des im idyllischen Rheingau gelegenen Weinguts ist unmittelbar an das mächtige Zentrum des Patriarchen geknüpft. Sei es Fräulein Schäfer, Winters Haushälterin und frühere Geliebte, der der Absprung in ein selbstbestimmtes Leben nicht gelingen will, sei es Carolins Mutter, die das Unglück ihrer Ehe im Alkohol ertränkt, sei es der stumme Gutsverwalter Bruno, Frau Winters einstiger Liebhaber, der diese noch immer liebt. Niemand in Winters Umfeld ist ihm allerdings so uneingeschränkt hörig wie seine einzige Tochter Carolin, die als Rechtsanwältin in Frankfurt arbeitet. Das emotionale Geflecht aus Schuldgefühlen, vergangenen Leidenschaften und Hassliebe wird empfindlich gestört, als ein Mann in Carolins Leben tritt: der deutlich jüngere Ingenieur Robert Fabry. Sie verbringen die Nacht zusammen; am nächsten Tag ist die „Hure“ Carlotta verschwunden, das vereinbarte Honorar lässt sie liegen. Noch am selben Tag trifft Robert Carlotta zufällig wieder, diesmal in ihrer bürgerlichen Rolle als Dr. Carolin Winter. Seine Anspielungen auf die vergangene Nacht ignoriert sie, was Robert zunächst für ein erotisches Spielchen hält und ihn erst recht für die geheimnisvolle Frau entflammen lässt. Schon bald will der Ingenieur sein bisheriges Leben für Carolin aufgeben und drängt auf Heirat: in der Illusion, die Frau damit gewissermaßen zähmen zu können, denn Carolin hat eine gespaltene Persönlichkeit. Ob ihr diese multiple Persönlichkeit selbst bewusst ist, wird in „Ich bin die Andere“ widersprüchlich dargestellt: Während sich Carolin in den Gesprächen mit ihren Vater an Carlottas Erlebnisse erinnert, weiß sie Robert gegenüber nichts von den gemeinsamen Nächten, in denen sie die Prostituierte Carlotta war. Doch geht es Margarethe von Trotta bei ihrer Variante des in der deutschen Literatur- und Filmgeschichte traditionsreichen Doppelgängermotivs ohnehin nicht um die Darstellung eines Krankheitsbildes oder um die Analyse von Carolins/Carlottas Psyche. Im Zentrum der Geschichte steht die Obsession, die sich in den verschiedenen Personenkonstellationen widerspiegelt und die die Grundlage der Winterschen Familiengeheimnisse bildet. So sind nicht nur Robert und Karl Winter – zwei „Kontrollfreaks“, sowohl der junge Ingenieur als auch der diktatorische Alte – von dem Gedanken besessen, Carolin zu besitzen und zu kontrollieren. Auch Carolin unterliegt Zwangsvorstellungen, die frappierend deutlich zutage treten, wenn sie erklärt, dass eine Frau bis zur Hochzeit ihrem Vater gehöre, um danach in den Besitz des Ehemanns überzugehen: „Es ist wie ein Tausch“. Realismus interessiert von Trotta dabei ebenso wenig wie psychologische Akkuratesse; stilbewusst und mit Mut zur Überzeichnung gehen Drehbuch, Regie und insbesondere Kamera sowie Beleuchtung zu Werke, was zahlreiche visuell betörende Einstellungen generiert; etwa wenn Robert seiner Geliebten in die marokkanische Wüste folgt, wo die verschiedenen Facetten der Hauptfigur zum ersten Mal zu einer Person verschmelzen. Auch wenn bei einem steifen Abendessen die repressiven Strukturen innerhalb der Familie Winter durch Kameraführung und Raumgestaltung aufgezeigt werden, liefert der Film optisch überzeugende Arbeit. Was auf der Ebene der Bilder meist funktioniert – ein Gefühl von „Bigger than life“, Größe, Tragik, Schicksal und Determiniertheit –, bleibt der Rest des Films indes schuldig. Statt sich zu einer universellen Erzählung von tragischer Wucht aufzuschwingen, liefert der Plot nur eine behäbig wirkende Versuchsanordnung und scheint, wie Fräulein Schäfer, nicht so recht den Absprung zu schaffen. Die artifiziellen Dialoge kommen über ihren konstruierten Charakter nicht hinaus, und an Stelle großer, leidenschaftlicher und zwingender Gefühle stehen oft nur Behauptungen, die zuweilen unfreiwillig ins Komische kippen. An den namhaften, sich redlich mühenden Schauspielern liegt es nicht, dass „Ich bin die Andere“ überkandidelt und in den meisten Szenen eine Nummer zu klein wirkt. Es ist das schematische Drehbuch, das zu viel und dieses viel zu deutlich erzählen will – und dabei an Leichtigkeit einbüßt. Und es ist die Regie, die sich vom schwerfälligen Duktus des Drehbuchs nicht hinreichend zu lösen vermag. So bleibt vor allem ein Eindruck haften, den Karin Dor als Mutter Winter in der Klarsichtigkeit des durch den Alkohol gelösten Geistes formuliert: „Wir sind eine anstrengende Familie, wissen Sie.“
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