Drama | Kanada/Großbritannien 2005 | 120 Minuten

Regie: Terry Gilliam

Nach dem Tod seiner Mutter zieht ein zehnjähriges Mädchen mit seinem Vater in ein baufälliges Anwesen mitten im Nirgendwo. Als auch der Vater stirbt, muss es auf sich allein gestellt die erdrückende Realität bewältigen. Ein konsequent aus der Perspektive seiner kleinen Heldin erzählter Film, der dem Zuschauer zugleich die visuelle Teilhabe an ihren Traumwelten verweigert. Ein verstörender Film über die Schrecken der Welt, aber zugleich eine Hymne auf den Lebenswillen eines Kindes. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TIDELAND
Produktionsland
Kanada/Großbritannien
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Capri Films/Recorded Picture Company/Prescience Film Fund
Regie
Terry Gilliam
Buch
Terry Gilliam · Tony Grisoni
Kamera
Nicola Pecorini
Musik
Jeff Danna · Mychael Danna · John Goodwin
Schnitt
Lesley Walker
Darsteller
Jodelle Ferland (Jeliza-Rose) · Jeff Bridges (Noah) · Aldon Adair (Luke) · Brendan Fletcher (Dickens) · Janet McTeer (Dell)
Länge
120 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras der umfangreichen Edition (2 DVDs) enthalten u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs und des Drehbuchautors sowie ein kommentiertes Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen (6 Min.). Des Weiteren besticht die Edition durch die erhellende Dokumentation "Getting Gilliam" (43 Min.) über den Regisseur und den Produktionsprozess des Films. Die Edition ist mit dem Silberling 2007 ausgezeichnet.

Verleih DVD
Concorde (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt., dts dt.)
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Diskussion
Terry Gilliams Blick auf die Welt war selten der eines rationalen Erwachsenen. Seine Filme zeigen die Welt aus der Perspektive der Kinder und Träumer, die dem profanen Alltag aus Arbeit und Pflicht ein Stück entrückt sind. In „Time Bandits“ (fd 23 341) ist es ein kleiner Junge, der mit einer Schar Zwerge eine Zeitreise unternimmt, in „Brazil“ (fd 25 074) ein unglücklicher Angestellter, der in seinem Kopf den Kampf gegen ein Orwellsches Bürokratie-Monster aufnimmt, in „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ (fd 27 257) der Lügenbaron selbst, der sich seine eigene Wirklichkeit erfindet. „Tideland“ folgt dem gleichen Prinzip: Er ist der Sichtweise der zehnjährigen Jeliza-Rose verpflichtet, die – wie andere Gilliam-Helden – ihre Vorstellungskraft einsetzt, um die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln. Allerdings bleibt der wahre Horror – anders als in Gilliams früheren Filmen – stets präsent. Gleich zu Beginn muss Jeliza-Rose den ärgsten Albtraum ertragen: den Tod von Vater und Mutter. Beide waren Junkies und überließen es Jeliza-Rose, ihre Heroin-Spritzen zu präparieren. Als die Mutter dann an einer Überdosis stirbt, flieht der Vater mit der Tochter in das Haus seiner Eltern – aus Furcht, man könne ihm das Sorgerecht entziehen. Doch das Familienanwesen ist eine baufällige Ruine mitten im Nirgendwo. Kaum ist Jeliza-Rose dort angekommen, setzt sich auch ihr Vater den „goldenen Schuss“, sodass sie, auf sich allein gestellt, versucht, das Unerträgliche erträglich zu gestalten. Das titelgebende „Tideland“, in das es das Mädchen verschlägt, ist eine Einöde, deren Leere und Weite der Vorstellungskraft keine Grenzen setzt. Zwar trifft Jeliza-Rose schon nach kurzer Zeit auf andere Einsiedler – die eigenwillige einäugige Dell und deren debilen Bruder Dickens –, doch ihre Anwesenheit integriert Jeliza-Rose ohne zu zögern in ihr privates Drama. Die Traumwelt, die sie dabei aufbaut, ist freilich kein sorgenfreies Paradies; sie formt ihre Realität zu einem Abenteuer, in dem es die unterschiedlichsten Bewährungsproben mit Klugheit und Heldenmut zu meistern gilt. Gemeinsam mit Dickens interpretiert sie einen baufälligen Unterschlupf als U-Boot, einen vorbeirasenden Zug als Monster-Hai und die Köpfe von vier Barbie-Puppen als mal mehr, mal weniger hilfsbereite Freundinnen. Wenn sie Trost und Geborgenheit sucht, dann findet sie nach wie vor bei ihrem Vater Zuflucht. Als Zuschauer befindet man sich dabei in der unangenehmen Position einerseits zu verstehen, dass für Jeliza-Rose ihr Vater noch am Leben ist, andererseits aber auch zu sehen, dass der Verwesungsprozess der Leiche bereits eingesetzt hat. Gilliam verweigert dem Zuschauer über weite Strecken die Teilhabe an Jeliza-Roses Version der Welt. Man erlebt sie bei ihren Rollenspielen, hört, wie sie die Ereignisse kommentiert oder mit Dickens Abenteuer erfindet, sodass man jederzeit zu wissen glaubt, was in ihrem Kopf vorgeht. Aber die Bilder des Films bleiben meist der Realität verpflichtet und stellen Jeliza-Roses bunten Fantasien eine entmutigende Wahrheit gegenüber. Dies war früher bei Gilliam anders. Zwar flüchteten auch die Protagonisten in „Brazil“ und „Münchhausen“ vor einer Wirklichkeit oder wie Robin Williams in „König der Fischer“ (fd 29 187) vor privaten Traumata. Doch im Gegensatz zu „Tideland“ ließen diese Filme den Zuschauer visuell teilhaben an den romantischen Eskapaden, mit denen Gilliams Helden gegen ihr Schicksal aufbegehrten, und luden dazu ein, an deren Relevanz zu glauben. „Tideland“ hingegen zwingt zur Bodenhaftung. Über zwei Stunden erkundet man die Seelenlandschaft eines kleinen Mädchens, das, des elterlichen Beistands beraubt, mit Tod und schließlich auch zarter erster Liebe konfrontiert wird, und erkennt dabei, dass es allein das Privileg der Kinder ist, sich die Welt zurecht zu fantasieren, wie es ihnen gerade passt. Erwachsenen, Menschen, die nicht nur für sich selbst Verantwortung tragen, ist dieser Luxus nicht mehr vergönnt. In gewisser Weise wirkt „Tideland“, als würde Terry Gilliam dies im Alter von 66 Jahren resignativ anerkennen; als hätte er eingesehen, dass man der Realität nicht entkommt, egal mit welcher Kunstfertigkeit man seinen Gegenentwurf erstellt. Dennoch stimmt der Film nicht pessimistisch. Im Gegenteil: Er ist eine Hymne auf die Tapferkeit seiner Heldin, die im Angesicht der Katastrophe die Fassung bewahrt und der es mit Hilfe ihrer Fantasie gelingt, ihr Leben zu meistern. Die stille Selbstverständlichkeit, mit der Gilliam ihren Glauben an sich selbst und die Güte der Anderen zeigt, trägt die Hoffnung in sich, dass möglichst vielen Kindern ihr Vertrauen in die Welt möglichst lange erhalten bleibt. Doch bleibt auch ein Rest Dunkelheit. Selbst wenn es hier keine Monster und keine wahrhaft bösen Menschen gibt, beunruhigt der Film mehr als jedes andere Werk von Gilliam. Vielleicht weil man Jeliza-Roses Zuversicht nicht vorbehaltlos teilen kann, weil man selbst zu alt ist für einen Kinderfilm, in dem jeder Schrecken noch zum Spiel taugt.
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