- | Großbritannien/Kanada 2006 | 112 Minuten

Regie: Marc Evans

Ein wortkarger Engländer nimmt bei einer Fahrt durch das winterlich kalte Ontario eine junge Anhalterin mit, die wenig später bei einem Unfall ums Leben kommt. Als er ihre Mutter aufsucht, wird er mit dem befremdlichen Verhalten einer scheinbar gefühlskalten Autistin konfrontiert, die den Tod ihrer Tochter ungerührt zur Kenntnis nimmt. Er bleibt bis zum Begräbnis bei ihr, wodurch auch bei ihm innere Narben zu schmerzen beginnen. Leises, berührendes Drama, das sich an Verdrängungen und seelischen Wunden abarbeitet, wobei manche Wendung des weitgehend über Bilder und Stimmungen erzählten Plots allzu abrupt und konstruiert wirkt. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SNOW CAKE
Produktionsland
Großbritannien/Kanada
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Revolution Films/Rhombus Media
Regie
Marc Evans
Buch
Angela Pell
Kamera
Steve Cosens
Musik
Broken-Social-Scene
Schnitt
Mags Arnold
Darsteller
Alan Rickman (Alex Hughes) · Sigourney Weaver (Linda Freeman) · Carrie-Anne Moss (Maggie) · David Fox (Dirk Freeman) · Jayne Eastwood (Ellen Freeman)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
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Heimkino

Verleih DVD
Kinowelt (1:1,85/16:9/Deutsch DD 5.1/Engl.)
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Diskussion
Es ist Winter; Schnee liegt auf den Straßen. Die Menschen tragen Schals. Draußen dampft ihr Atem in der Luft, drinnen wärmen sie ihre Hände an einer heißen Tasse Kaffee. Alex fährt alleine in einem Leihwagen durch das weite Ontario. Er hat seinen Kragen hochgestellt, als er aussteigt, um Rast zu machen. Winterstimmung senkt sich sanft über die Landschaft und über Marc Evans’ Film. Der Schnee bringt Stille und Vergessen. Das wattige Weiß, das im Kino auf eine lange und vielfältige Symbolik zurückblicken kann, hält aber auch fest, was unter ihm begraben ruht, um es unweigerlich im Frühjahr wieder preiszugeben. Die weitere Entwicklung des Dramas um Verdrängen und Erinnern wird im Bild der Winternatur allegorisch vorweggenommen. Kunstvoll durchdacht, aber auch ein wenig gekünstelt. Der von Metaphernmaschinen herbeigeschaufelte Schnee verliert an Magie. Gefroren ist das Herz von Alex. Darin eingeschlossen – wer die üblichen Filmdramaturgien kennt, ahnt das – ist ein furchtbares, trauriges Geheimnis. Bald schon legt das Drehbuch dem wortkargen Einzelgänger Andeutungen in den Mund. Üblicherweise zielt der weitere Verlauf solcher Filme darauf ab, das verdrängte Trauma nach und nach offen zu legen, das Eisherz aufzutauen: „Snow Cake“ ist solch ein Film. Gefühlig, sentimental, aber auch mit berührenden, liebevoll-schönen Momenten, insgesamt jedoch vorhersehbar und überkonstruiert. Alan Rickman spielt den verstockten Engländer Alex vortrefflich. Sein emotionales Auftauen vollzieht sich zögerlich und zurückhaltend genug, um psychologisch glaubwürdig zu bleiben. Die drei Frauen, die sein Herz erwärmen, erstarren hingegen allesamt in überindividuellen Kinoklischees. Da ist die temperamentvolle Anhalterin Vivienne, die Alex in der Raststätte anspricht, weil er so einsam auf sie wirkt und sie ihm bei der weiteren Fahrt gerne Gesellschaft leisten möchte. Alex weist den distanzlosen Späthippie zunächst süffisant ab, um sich schließlich doch von ihm erweichen zu lassen. Die knappen, ironischen Bemerkungen, mit denen er bei der Autofahrt den Wortschwall Viviennes kommentiert, gehören zu den komischen Höhepunkten des Films. Dann aber kracht ein Sattelschlepper in den Wagen. Vivienne stirbt noch am Unfallort. Nach dem ersten Schock beschließt Alex, Viviennes Mutter Linda aufzusuchen, zu der Vivienne unterwegs war. Als er bei ihr ankommt, stellt er irritiert fest, dass sie unter dem Tod ihrer Tochter nicht sonderlich zu leiden scheint. Das einzige, was sie offensichtlich bekümmert, ist, dass jetzt am Dienstag um 12 Uhr niemand da ist, um ihren Müll vor die Tür zu stellen. Vor Müll hat Linda panische Angst, ebenso wie vor Unordnung und Berührungen. Ihre Küche lässt sie Alex erst betreten, nachdem er seine nassen Sachen in eine Waschmaschine gesteckt hat; anfassen darf er nichts. Linda ist Autistin. Drehbuchdebütantin Angela Pell hat selbst einen autistischen Sohn und weiß also, worüber sie schreibt. Unemotional, scheinbar kaltherzig agiert Linda auf alles, was die Vergangenheit betrifft. Dafür aber genießt sie die Gegenwart so intensiv und verspielt, wie das sonst nur Kinder können. Sie schaukelt für ihr Leben gern, und sie liebt den Schnee, legt sich in ihn hinein, isst ihn; mit verklärtem Lächeln und glänzenden Augen. Nach „Rain Man“ (fd 27 420) nun also „Snow Woman“, nach Dustin Hoffman Sigourney Weaver. Der Autist, die Autistin: das ist eine dieser Paraderollen, auf die jeder Filmschauspieler wartet. Weaver musste darauf wohl zu lange warten. Ehrgeizig, wie entfesselt spielt sie gegen ihr „Alien“-Image an. Kino aber wird auch dann nicht zum Theater, wenn die Ausdrucksmöglichkeiten wachsen. Weaver spielt groß, letztendlich aber zu groß. Die Gefahr zu überspielen bestand für Carrie-Anne Moss nie. Zu anspruchslos blieb ihre Rolle der modernen und sexuell aufreizenden Nachbarin Maggie, die Alex als dritte Frau schicksalhaft begegnet. Moss muss vor allem gut aussehen und halbwegs intelligent wirken. Beides fällt ihr leicht. Alex begegnet Maggie am Gartenzaun. Linda diffamiert sie als Prostituierte, Alex nimmt das wörtlich und stattet Maggie einen Besuch ab. Beide landen im Bett, doch als Alex bezahlen möchte, klärt sich das Missverständnis auf. Ein peinlicher Moment als Beginn einer romantischen Affäre. Und eine prägnante Szene mit Ausrufezeichen. „Snow Cake“ sammelt derartige Kinopointen. Bedeutungsschwere, metaphorische oder heitere Augenblicke, die alle für sich genommen funktionieren, ohne sich aber organisch aus der Gesamterzählung zu ergeben. Wie Bilder einer Galerie gliedern sie den Film, der gleichsam rückwärts auf die eine titelgebende Szene zugeschrieben scheint, in der Alex Linda einen Schneekuchen ins Gefrierfach stellt. „Carpe Diem!“, oder: „Enjoy the Snow Cake!“ Und: Bewältige deine Vergangenheit! Ein Glück nur, dass sich der Filmemacher bei soviel Lebensweisheit das Happy End versagt.
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