Dokumentarfilm | Österreich/Italien 2005 | 104 Minuten

Regie: Tizza Covi

Dokumentarfilm über eine italienische Zirkusfamilie, vor allem die 20-jährige Tochter Babooska, die ein Jahr lang während einer Tournee durch ein nasskaltes Mittelitalien begleitet wird. Ein melancholisches, leises Road Movie, das mit ernüchternden Bildern den Alltag der Artisten und ihre Strategien beobachtet, mit dem Niedergang des Zirkus klar zu kommen. (O.m.d.U.) - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
BABOOSKA
Produktionsland
Österreich/Italien
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Vento Film
Regie
Tizza Covi · Rainer Frimmel
Buch
Tizza Covi · Rainer Frimmel
Kamera
Rainer Frimmel
Schnitt
Tizza Covi
Länge
104 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Es ist schon eine Weile her, dass das Nomadische in den Feuilletons den Ton angab und man sich auf den Spuren von Deleuze und Guattari im wilden Denken übte. Heute ist das rhizomatische Philosophieren akademisch vermessen und Gegenstand von Proseminaren, wenngleich mancher angesichts der neu uniformierten Wirklichkeit insgeheim den weichen Identitäten und multiplen Perspektiven nachtrauert. Auch bei Tizza Covis und Rainer Frimmels Dokumentarfilm über einen kleinen italienischen Wanderzirkus drängt sich alsbald die Erinnerung an einen früheren Film auf, an Humbert/Penzels „Middle of the Moment“ (fd 31 620), in dem in grobkörnigen Schwarz-weiß-Bildern die Poesie der Manege beschworen und das ruhelose Umherstreifen als Voraussetzung von Kunst und wahrem Leben gefeiert wurde. Beide Filme könnten kaum unterschiedlicher sein, obwohl sie doch vom selben Gegenstand handeln, der bei Covi/Frimmel aber nicht im magischen Licht der Scheinwerfer, sondern quasi bei Tageslicht betrachtet wird. „Floricicchio“ nennt sich die bunte Ansammlung leuchtend roter Lkws und verbeulter Wohnwagen, die sich durch ein nasskaltes, abweisendes Mittelitalien quält und am Rand kleinerer Städte für einige Tage Halt macht. Auf feuchten Wiesen oder aufgelassenen Industriebrachen werden die Fahrzeuge dann so lange hin- und herrangiert, bis eine kleine Trailerburg steht, rund um das große Zelt in ihrer Mitte. Dorthin verirrt sich die Kamera nur selten; stattdessen sitzt sie bei der Familie Gerardi mit am Tisch und weicht insbesondere deren Tochter Babooska kaum von der Seite, die am Ende der einjährigen Dreharbeiten ihren 21. Geburtstag feiert. Klein, drahtig und nüchtern bis auf die Knochen, wirkt die junge Frau mitunter älter als ihre Mutter; der tägliche Kampf ums Überleben verleiht ihren markanten Gesichtszügen bisweilen eine allzu frühe Härte, die nur selten jugendlichem Ungestüm weicht. Zwar hat sich die Familie gegen die Unwägbarkeiten ihres Wanderlebens mit einem robusten Zweckoptimismus gewappnet, der auf Blitzeinschlag oder Verletzungen ähnlich gelassen reagiert wie auf den Weggang der ältesten Tochter, die durch Heirat das Unterwegssein gegen eine feste Bleibe in Rimini tauscht. Doch über die schwindenden Aussichten ihrer Existenzform gibt sich niemand Illusionen hin – was ein fast trotziges Festhalten am Status quo umso nachhaltiger zu befeuern scheint. Der Film unterstreicht dies mit kommentar- und schmucklosen Bildern aus dem Alltag, dem routinierten Ein- und Auspacken von Geschirr und Zierrat, mit dem ihr beengtes Heim einen bürgerlichen Anstrich erhält, dem Auf- und Abbau des Zeltes oder anderen, immer wiederkehrenden Verrichtungen; lauter nüchterne, ernüchternde Momente eines Daseins, das in den Augen des Publikums doch für Glamour und Ekstase steht. Die Stärke dieser Aufnahmen liegt in ihrer Unaufdringlichkeit, der beiläufigen Präsenz, mit der die unspektakulären Ereignisse eingesammelt und zur filmischen Erzählung verdichtet werden. Manche Einstellungen gewinnen programmatischen Charakter; wenn die drei Schwestern nachts etwa einen Boxkampf auf ihrem kleinen Fernseher verfolgen oder sich am Silvester-Abend in ihrem Wohnwagen verbarrikadieren, liegen die Subtexte auf der Hand: die medialen Verschiebungen im Showgeschäft, das Ausgeschlossensein als Preis der „nomadischen“ Existenz. Doch die Verweise bleiben in die Struktur des Films eingebunden, der in Gestalt eines zurückgenommenen Road Movies einen melancholisch-leisen Abgesang auf eine überkommene Lebensweise anstimmt. Das nimmt mitunter deprimierende Züge an, die auch durch den Humor und Witz der Protagonisten nicht aufgehoben werden; Babooskas trotziges Beharren, die eine Kerze auf ihrem Geburtstagskuchen eben 21 Mal anzuzünden und auszublasen, kann den Eindruck eines frühen Geburtstagsvideos nicht beiseite schieben, als es dem Zirkus weit besser ging. Diese Dissonanz, pointiert ans Ende des Films gesetzt, markiert am augenfälligsten den Niedergang wie auch die Strategien der Protagonisten, damit umzugehen, lässt aber auch verständlich werden, warum sich die Erinnerung an die verklärte Nomaden-Ode von Humbert/Penzel wie ein utopischer Gegenentwurf ins Bewusstsein schiebt: als Sehnsucht nach einer Zeit, als das Wünschen (vielleicht) noch geholfen hat.
Kommentar verfassen

Kommentieren