Komödie | USA 2006 | 85 Minuten

Regie: Larry Charles

Ein Reporter des kasachischen Fernsehens, eine Kunstfigur des britischen Comedian Sacha Baron Cohen, reist quer durch Amerika, um Land und Leute kennen zu lernen, provoziert und verstört durch seine Fragen und sein Verhalten, was seine Gegenüber zu (selbst-)entlarvenden Äußerungen zwingt. Eine Art "Doku-Comedy", in deren Verlauf rassistische, intolerante, antisemitische oder frauenfeindliche Vorurteile zu Tage treten. Dabei macht es der Film nahezu unmöglich, eine Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion zu ziehen, und irritiert durch einen mitunter sehr platten und derben Humor. (Teils O.m.d.U.) - Ab 16 möglich.
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Filmdaten

Originaltitel
BORAT: CULTURAL LEARNINGS OF AMERICA FOR MAKE BENEFIT GLORIOUS NATION OF KAZAKHSTAN
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Everyman Pic./Gold-Miller Prod./One America
Regie
Larry Charles
Buch
Sacha Baron Cohen · Anthony Hines · Peter Baynham · Dan Mazer
Kamera
Luke Geissbuhler · Anthony Hardwick
Musik
Erran Baron Cohen
Schnitt
Craig Alpert · Peter Teschner · James Thomas
Darsteller
Sacha Baron Cohen (Borat Sagdiyev) · Ken Davitian (Azamat Bagatov) · Pamela Anderson (Pamela Anderson)
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16 möglich.
Genre
Komödie
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Fox (1:1,85/16:9/Dolby Digital 5.1/dts)
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Diskussion
Mit „Borat“ bringt der britische Comedian Sacha Baron Cohen nun auch seine zweite Fernseh-Kunstfigur ins Kino. Anders als „Ali G Indahouse“ (fd 35 560), der um die bekannte Figur (ein Mittelklasse-Kid spielt den Ghetto-Rapper) eine fiktive Handlung entwarf, hält sich „Borat“ weitgehend ans Fernsehformat – und überschreitet genau deshalb fast unablässig sämtliche Schmerzgrenzen konventioneller Comedy. Um von Amerika zu lernen, begibt sich der schnauzbärtige kasachische Fernsehreporter Borat Sagdiyev mit seinem Produzenten Azamat nach New York, wo er in diversen Recherche-Interviews die Menschen mit seiner Sicht der Dinge konfrontiert. Die ist vor allem eines: politisch extrem unkorrekt. Borat agiert als Repräsentant einer Kultur, in der die Frau in der sozialen Rangordnung unter dem Schwein steht, Vergewaltigung ein Kavaliersdelikt und Sodomie die Regel ist, ein archaischer Antisemitismus gepflegt wird und alle anderen Nationen, insbesondere Usbekistan, als „schwul“ gelten. Borat ist ein Patriot, der ganz im Einklang mit seiner Kultur lebt, insbesondere, wenn er neugierig die USA erkundet. In New York trifft er auf seriöse Feministinnen, die selbstbewusst Gleichberechtigung postulieren und Bücher darüber schreiben, was Borat ein spontanes Lachen entlockt, weil es sich dabei offenkundig nur um einen Scherz handeln kann. Beim Fernsehen im Hotel verliebt er sich in ein Wesen mit rotem Badeanzug, güldenem Haar und „dem Poloch einer Siebenjährigen“. Sein Weg führt ihn fortan nach Westen; später wird er versuchen, Pamela Anderson nach alter kasachischer Sitte zu ehelichen, zur Not auch mit Gewalt. Borat nimmt Fahrstunden und erhält Benimm-Unterricht, doch immer wieder bringt ihn seine Spontaneität in Bedrängnis. Seinen Benimm-Lehrer löchert er mit einfältigen Fragen, und im Rahmen eines Abendessens bei kultivierten Südstaatlern erprobt er die Tragfähigkeit der gelernten Verhaltensmaßregeln. Natürlich darf man Frauen bei Tisch Komplimente machen, nur sollten sie sich nicht allzu offensiv auf deren potenzielle Fruchtbarkeit beziehen; natürlich darf man nach der Toilette fragen, aber nur, weil man noch an „shitholes“ gewöhnt ist, muss man seine Exkremente nicht gleich an den Esstisch mitbringen. Beim Smalltalk verwechselt Borat „retired“ (in Rente) mit „retard“ (behindert) und fragt den Hausherrn freundlich, aber insistierend nach der Art seiner Behinderung. Bald sind sich alle Anwesenden einig: Borat wird noch viele Jahre brauchen, bis aus ihm ein echter Amerikaner wird. Die kulturellen Unterschiede sind einfach zu groß. Doch Borat hat noch eine Überrraschung in petto: Er hat seine Freundin, die afro-amerikanische Prostituierte Luenell, zum Dinner eingeladen – und das ist dann echt „too much“. „Borat“ arbeitet konsequent an der Schwelle zwischen Fiktion und Dokumentation: Viele Begegnungen scheinen strikt dokumentarisch, nur der Rahmen der Erzählung und eben die Legende des Kasachen Borat sind fiktiv. Borats Blick auf sein Heimatland, der bereits zu werbeträchtigen internationalen Verstimmungen geführt hat, ist, je nach Perspektive, sehr patriotisch oder extrem rassistisch. Gerade dadurch, dass er sich auf durchaus charmante Art offensiv dumm und primitiv gibt, entlockt er Gesprächspartnern durch sein mitunter geradezu unheimliches Timing Dinge, die sie unter normalen Umständen nie sagen würden. Borat „entlarvt“ also rassistische, intolerante, antisemitische oder frauenfeindliche Vorurteile, indem er die Grenzen der Kommunikation und Contenance auslotet. Aus Höflichkeit und/oder Feigheit werden Gesprächspartner nur selten massiv, agieren aber gerade dadurch fast schmerzhaft komisch. Tatsächlich gelingt Cohen durch sein irres Road Movie eine dokumentarische Momentaufnahme der amerikanischen Psyche zwischen Bigotterie, christlichem Fundamentalismus, Dummheit, Sendungsbewusstsein und einer puritanischen Körperfeindlichkeit, die durch die strategisch ausgebildete Toleranz der „political correctness“, die eine Strategie des kommunikativen Beschweigens ist, bestens kaschiert wird. Zu sehen ist auch, wie Borat spontan den Körperpanzer der weißen Amerikaner, ihr Beharren auf eine ausgeweitete Privatsphäre, nachdrücklich attackiert und dadurch mehr als einmal hysterische Reaktionen evoziert. Lacht der Zuschauer über die radikale Form oder den radikalen Inhalt? Kann er sich selbst mit der Haltung des offensichtlichen Dummkopfs identifizieren? Kommen also bei „Borat“ Antisemiten und Frauenhasser auf ihre Kosten? Lacht man über Borats Einfältigkeit und seine „praktischen“ Interventionen oder (mit Borat) über die aberwitzigen Interaktionen vor der Kamera? Besser noch: Lacht der Zuschauer letztlich über sich selbst, seine unverhoffte, erschreckende Begegnung mit den eigenen Vorurteilsstrukturen, und sei es nur jener, sich als aufgeklärter Zeitgenosse gleichermaßen über Borat und seine Opfer erheben zu können? Das führt zu einer neuen Form der Doku-Comedy, einem selbstreflexiven, aufklärerischen Lachen in der dritten Person, das freilich von klassischen Komödienszenen und peinigend-aberwitzigen Momenten einer Klamotte der untersten Schublade gerahmt ist. Keineswegs darf der Pakt zwischen Borat und dem Zuschauer als ausgemacht gelten, dieser wird vielmehr in jeder Szene neu ausgehandelt. Jahrelang hat sich Cohen erfolgreich geweigert, in Interviews aus seinen Figuren herauszutreten. Es gab nur Ali G., Borat und den schwulen Österreicher Bruno, nichts dahinter. Auch kann die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion nicht eindeutig bestimmt werden. Was wäre, wenn sich einige Spielszenen als Fake, als Inszenierung erweisen würden, sich die vorgeführten Amerikaner also als Mitwirkende einer Fiktion erweisen würden? Besonders provokativ ist Cohens drastischer Umgang mit dem Antisemitismus: „Borat“ präsentiert anti-semitische Stereotypen, die zugleich deren Desavourierung sind. Cohen ist selbst Jude und hat an diversen pro-jüdischen Projekten mitgewirkt. Gibt dieses Wissen beim Lachen Sicherheit? Will man diese Sicherheit überhaupt? Insgesamt ist „Borat“ ein überfälliger Befreiungsschlag gegen alles und jeden, der an den alten Satz erinnert: Was darf Satire? Antwort: Alles.
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