Ein Lied für Argyris

Dokumentarfilm | Schweiz 2006 | 109 Minuten

Regie: Stefan Haupt

Der Dokumentarfilm folgt dem Lebensweg des 66-jährigen Argyris Sfountouris, der sich mit dem Wahnsinn auseinandersetzt, der ihm als Kind widerfuhr: Im Sommer 1944 wurden seine Eltern und Verwandten sowie über 200 weitere Menschen aus dem griechischen Dorf Distomo Opfer des Massakers einer deutschen SS-Division, das als Reaktion auf einen Partisanenangriff verübt wurde. Neben Archivmaterial und privaten Fotos lässt der beeindruckende Film den Protagonisten und andere Zeitzeugen erzählen. Getragen von der Hoffnung auf eine mitmenschlichere Zukunft und Völkerverständigung, werden die Zeit- und Handlungsebenen stilsicher verknüpft und wirken lange nach. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
EIN LIED FÜR ARGYRIS
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Fontana Film/SF/TSR/TSI/SRG SSR idée suisse
Regie
Stefan Haupt
Buch
Stefan Haupt
Kamera
Patrick Lindenmaier
Musik
Tomas Korber · Jorgos Stergiou
Schnitt
Stefan Kälin
Länge
109 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Immer wieder taucht in Stefan Haupts beeindruckendem Dokumentarfilm ein schwarz-weißes Foto aus der Mitte der 1940er-Jahre auf. Es zeigt einen kleinen Jungen, umringt von den Überlebenden seiner Familie: die Lippen zusammengekniffen, der Mund ein schmaler Strich. Die viel zu erwachsenen Augen, mit denen der Vierjährige schreckliche Gräueltaten ansehen musste, signalisieren neben der Trauer, dass hier jemand steht, der begreifen will und der Welt die Frage stellt: Meint ihr das wirklich so? Sein Leben lang wird er nach Antworten suchen. Der Junge ist Argyris Sfountouris, der am 10. Juni 1944 ein Massaker in seinem griechischen Heimatdorf Distomo miterlebte: ein Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung, dem über 200 Menschen zum Opfer fielen, unter ihnen die Eltern und 30 weitere Familienangehörige. Das blutige Ergebnis der „Strafmaßnahme“ einer SS-Panzerdivision, deren Kommandeur mit diesem Verbrechen auf einen Partisanen-Hinterhalt reagierte. Argyris und seine Schwester überlebten nur durch die Menschlichkeit eines deutschen Soldaten, der die beiden Kinder mit Steinwürfen in ihr Versteck zurückscheuchte. Während die Schwester seit diesem Zeitpunkt traumatisiert war, begann für Argyris eine langwierige Odyssee und ein bemerkenswerter (Über-)Lebensweg. Die Großeltern, die sich seiner zunächst annahmen, mussten den Jungen in ein Waisenhaus in Athen abgeben. Dort schien er wenig Aussicht auf eine bessere Zukunft zu haben, doch das Leben hatte anderes mit Argyris im Sinn: Nach vier Jahren fiel er einer Delegation des Roten Kreuzes auf, die eine Überführung des Jungen in ein neu gegründetes Pestalozzi-Dorf in der Schweiz ermöglichte. Dort musste er zwar die für ihn mit Angst besetzte deutsche Sprache lernen, machte aber seinen Weg: Er studierte nach dem Abitur Philosophie und Astrophysik, betätigte sich als Übersetzer (u.a. Nikos Kazantzakis) und Autor, gründete angesichts des Obristen-Putsches in seiner Heimat 1968 die Literaturzeitschrift „Propyläa“ und wurde nicht müde, Gerechtigkeit für die Opfer von Distomo und ihre Hinterbliebenen zu fordern. Allerdings wurde der Anspruch auf Reparationsleistungen des Mannes, der sich zwischenzeitlich als Katastrophenhelfer in Somalia, Nepal und Indonesien betätigte, nach der deutschen Wiedervereinigung durch den „2 plus 4-Vertrag“ torpediert. Doch Argyris gab nicht auf, initiierte eine Beschlagnahmung deutschen Eigentums (Goethe-Institut) in Athen (die in letzter Sekunde abgewendet wurde), Gedenktage für die Distomo-Opfer sowie Treffen, die von offiziellen Vertretern der deutschen Politik nur zögerlich wahrgenommen wurden. Auch nach über 60 Jahren vermittelt Argyris Sfountouris nicht den Eindruck, dass er von seinem Ziel, der Aufarbeitung der an seinem Dorf begangenen Gräuel, auch nur einen Deut abrücken würde. Stefan Haupt, der für seinen Spielfilm „Utopia Blues“ (2001) den Schweizer Filmpreis erhielt stellt mit „Ein Lied für Argyris“ keinen hasserfüllten Menschen in den Mittelpunkt seines rekonstruierten Lebensweges, vielmehr einen freundlichen, eloquenten und überaus nachdenklichen Mann, dem die Menschlichkeit über alles zu gehen scheint. Das macht den Film neben den zeitgeschichtlich verbürgten Fakten (u.a. von Mikis Theodorakis, der zur Zeit der Besatzung in den Reihen der Partisanen kämpfte) ebenso anrührend wie bedeutsam. Argyris fordert kein Mitleid, keine diplomatische Pflichtentschuldigung, sondern Gerechtigkeit und die Rückbesinnung auf eine Menschlichkeit, die ihm als Vierjähriger verlustig ging und die er sich mühevoll zurückerobern musste. Haupts Film ist nicht nur ein beeindruckendes Geschichtsdokument, sondern zeigt auch einen in sich ruhenden Protagonisten, der zwar mit seiner Welt noch längst nicht im Reinen ist, aber die Langmut hat, mit ihr ins Reine zu kommen. Das nur halb private Friedensangebot eines Menschen, der keinen Hehl daraus macht, dass sein Schicksal ihm jedes Privatleben, jede Beheimatung unmöglich gemacht hat. Diese Entwurzelung spiegelt der Film auf sehr subtile Weise: Argyris gibt nicht etwa in seiner Züricher Stadtwohnung Antworten auf die mannigfaltigen Fragen, sondern wird stets am Ort des jeweiligen Geschehens befragt. Das mag übertrieben aufwändig erscheinen, verleiht dem Film jedoch ein gerüttelt Maß an Authentizität. Wenn Argyris im Schatten seines verwaisten Elternhauses auf dem Boden sitzt und eine streunende Katze krault, dann scheint es sogar für ihn so etwas wie Heimat zu geben; auch wenn diese nur aus Erinnerung und Hoffnung besteht.
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