- | Ägypten 2005 | 112 Minuten

Regie: Jocelyne Saab

Eine lebenshungrige Ägypterin fühlt sich von den Geheimnissen des Sufismus und dessen Poesie angezogen und möchte nach ihrem Literaturstudium eine Ausbildung als Tänzerin machen. Doch ihr Bewerbungstanz erscheint der Aufnahmejury als zu erotisch aufgeladen. Tatsächlich bricht die Frau aus ihrer Ehe aus, als sie einen Schriftsteller kennen lernt, der sie mit der sinnlichen Kraft der Sprache vertraut macht. Der souveräne Film spricht Themen an, die nicht nur im arabischen Kino unerwünscht sind: Emanzipation, Selbstverwirklichung, sexuelle Selbstfindung, und schreckt auch vor dem Tabu der klitoralen Beschneidung nicht zurück. Ein mutiges Drama, das in seinem Ursprungsland für politische Aufregung sorgte. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DUNIA
Produktionsland
Ägypten
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Catherine Dussart Prod.
Regie
Jocelyne Saab
Buch
Jocelyne Saab
Kamera
Jacques Bouquin
Musik
Patrick Leygonie · Jean-Pierre Mas
Schnitt
Claude Reznik
Darsteller
Hanan Turk (Dunia) · Mohamed Mounir (Beshir) · Fathy Abdel Wahab (Mamdouh) · Sawsan Badr (Arwa) · Khaled El Sawi (Hazem)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Die Titelheldin ist eine moderne junge Frau, ein Kind der Großstadt. Sie hat Sehnsüchte wie die meisten jungen Menschen. Und wie viele stößt sie immer wieder an gesellschaftliche oder familiäre Grenzen, wenn sie versucht, ihre Träume zu verwirklichen. Dunia träumt von sinnlicher Erfüllung, einem Leben als Tänzerin – auf den Spuren ihrer Mutter. Ihre Geschichte könnte in Tokio angesiedelt sein, in Berlin, New York und überall auf ähnliche Weise von der Suche nach dem eigenen Weg berichten; vom Ringen zwischen Wünschen und Ansprüchen, Tradition und Selbstfindung. Die Geschichte jedoch, die die libanesische Drehbuchautorin und Regisseurin Jocelyn Saab inszeniert, spielt in Kairo. Es ist eine universelle, aber auch eine zutiefst ägyptische Geschichte. Zwar reiben sich überall auf der Welt junge Leute an Traditionen, aber diese kulturellen Überlieferungen sind auch überall verschieden. In „Dunia“ gelingt es Saab, beide Sphären – Allgemeingültigkeit und Kulturspezifik, poetischen Charme und politische Brisanz – miteinander zu vereinen. Mit zwei ägyptischen Stars in den Hauptrollen – der in Griechenland geborenen Tänzerin und Nachwuchsschauspielerin Hanan Turk und dem „Begründer der ägyptischen Popmusik“ Mohamed Mounir – erzählt Saab nicht nur von einer jungen Frau, die nach ihrem Platz in der Welt sucht, sondern zugleich auch vom Tabuthema der weiblichen Beschneidung. Dunia hat in Kairo Literatur studiert. Sie ist klug, leidenschaftlich und mutig. Das lange Haar trägt sie gerne offen, und sie liebt es zu tanzen. Ihre verstorbene Mutter war eine berühmte Tänzerin; sehr zum Leidwesen der Familie. Nun möchte sich auch Dunia in jener Kunst ausbilden lassen, die sich für eine anständige Frau angeblich nicht ziemt. Schon während der Übungsstunden in der renommierten Kairoer Tanzschule saugt sie die sinnliche Atmosphäre auf, die körperliche und doch keusche Nähe zu ihrem Tanzlehrer. Weniger keusch entwickelt sich ihre Beziehung zum fortschrittlichen und regierungskritischen Schriftsteller Beshir, der von fanatischen Gegnern angegriffen wurde und vorübergehend sein Augenlicht verlor. Über den Tanz soll er seine Sehkraft zurückgewinnen. Lustvoll, zärtlich tastet, hört und riecht er sich in ein neues Sinnesleben hinein. Wie Beshir ist auch Dunia verwundet, verstümmelt worden. Und so wie sie Beshir hilft, das Augenlicht zurückzugewinnen, hilft dessen Liebe ihr dabei, ihren Sexualsinn neu zu entdecken. Dass Dunia als junges Mädchen beschnitten wurde, teilt sich dem Zuschauer lange Zeit nur indirekt mit. Es ist ihren Reaktionen auf die drohende Beschneidung ihrer Cousine abzulesen, die ihre Schwester verhindern möchte. Und man spürt es am widersprüchlichen Verhalten, mit dem Dunia die Annäherungen ihres Verlobten Mamdouh gleichzeitig herausfordert und zurückweist. Irgendwann gibt Dunia dem Drängen Mamdouhs nach und heiratet ihn. Doch ihre Leidenschaft für den Tanz lässt sie sich ebenso wenig nehmen wie ihre geheime Liebe zu Beshir. Es sind seine Zärtlichkeit, die poetischen Lehren des Sufismus und eben der Tanz, die Dunia über die Wunden hinweghelfen, die das Beschneidungsritual nicht nur an ihrem Körper, sondern auch an ihrer Seele hinterlassen hat. Tanzend, im roten Kleid, das den blutigen Eingriff ebenso symbolisiert wie die sexuelle Lust, die ihr geraubt werden sollte, erobert sie ihre Identität als Frau, ihre Freiheit und ihr Selbstwertgefühl zurück. Regisseurin Saab thematisiert das Beschneidungsritual in „Dunia“ anhand einer kleinen filmischen Erzählung, ohne zu agitieren, anzuklagen, schwarzweiß zu malen; unaufgeregt, fast nebenbei: Das ist kein filmisches Pamphlet, kein Agitationskino. Es ist ein beschaulicher, liebevoll zurückhaltender Film ohne große dramaturgische Wendungen. Und es ist auch ein stiller, schüchterner Film, der von der westlichen Warte aus betrachtet sein sinnliches Potenzial weder in den eher biederen Tanzsequenzen noch in den scheuen Liebesszenen hinreichend ausschöpft und bisweilen ein wenig träge dahinplätschert. In Ägypten hingegen sorgte der Film für große Aufregung. Nur internationale Proteste konnten eine Zensur verhindern. Ägyptens Staatspräsident Hosni Mubarak gab den Film schließlich persönlich frei. Bei seiner Premiere auf den internationalen Filmfestspielen in Kairo löste er eine heftige Kontroverse aus. Zwar ist die klitorale Beschneidung in Ägypten seit 1997 gesetzlich verboten, Menschenrechtsorganisationen zufolge wird sie aber bei 97 Prozent der ägyptischen Frauen nach wie vor praktiziert. Ein heikles, sensibles Thema, dem sich Saab in „Dunia“ vorsichtig und hoffnungsvoll annähert, indem sie sich nicht auf das Leid konzentriert, sondern auf die Sehnsucht, den Willen und die Kraft, dieses zu überwinden. „Dunia“ zeigt in der Titelheldin keine gebrochene, sondern eine verletzte Frau, die ihren Stolz und ihre Würde zurückerkämpft. Aus westlicher Sicht geht der Film dabei vielleicht etwas zu zögerlich vor, in manchen arabischen Augen mag er ein Skandal sein. Es scheint, als habe Saab genau den richtigen Ton getroffen.
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