Drama | Frankreich 2005 | 93 Minuten

Regie: Raphaël Jacoulot

Eine 30-jährige allein erziehende Mutter in Frankreich zieht mit ihrem 15-jährigen Sohn in ein einsames Haus aufs Land an einen Staudamm. Dies ist der erste Schritt der instabilen und eifersüchtigen Mutter, die fast noch so jung aussieht wie ihr Sohn, den Jungen auch weiterhin ganz für sich zu haben und ihn am Erwachsenwerden zu hindern. Als er sich dem widersetzt, gibt sie ihm Medikamente, die ihn schwächen - bis es zur Katastrophe kommt. Die wortkarge Psychostudie konzentriert sich ganz auf die ebenso intensiv wie zärtlich gespielte Mutter und lebt aus einer großen inneren Spannung heraus, die sich in den Landschaftsaufnahmen widerspiegelt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BARRAGE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Tessalit Prod.
Regie
Raphaël Jacoulot
Buch
Raphaël Jacoulot · Lise Macheboeuf
Kamera
Benoît Chamaillard
Musik
Olivier Pianko
Schnitt
Miriam Strugalla
Darsteller
Nade Dieu (Sabine) · Hadrien Bouvier (Thomas) · Anaïs Demoustier (Lydie) · Pierre Berriau (Nachbar) · Aurélia Petit (Laurence)
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Im Wasser ist Sabine ganz bei sich. Zu Beginn des Films taucht sie allein und ruhig im großen Schwimmbad. Wenig später zieht sie aus der Kleinstadt Montbéliard (im Franche-Comté nahe Belfort) aufs Land, in ein wunderschönes, einsames weißes Haus am Ufer eines Stausees. Sie blickt oft auf den See, wenn sie nicht weiter weiß, dann ruht die Kamera wie die Augen der Protagonistin lange auf dem Wasser. „Barrage“ (Staudamm), der Abschlussfilm des 35-jährigen Raphaël Jacoulot an der französischen Filmhochschule Femis, ist ein langsamer Film voller innerer Spannung. Wäre er in Deutschland entstanden, würde man ihn sofort mit dem Etikett „Berliner Schule“ versehen. Vieles wird nicht erklärt, Jacoulot folgt dem Leben seiner Protagonistin, das nur sehr bruchstückhaft erklärt wird, bis zur Katastrophe, die auch ganz ruhig verläuft. Sabine ist eine 30-jährige junge Mutter, die als Sozialarbeiterin in einem Krankenhaus tätig ist. Sie hat einen 15-jährigen Sohn und sieht selbst wie höchstens 20 aus. Was mit dem Vater des Jungen passiert ist, erfährt man nicht. Sie erzieht Thomas allein und sieht voller Sorge, dass er anfängt, sich von ihr zu lösen. Er trifft sich mit Freunden, macht sein Praktikum nicht in der Nähe, sondern ein gutes Stück entfernt in einem Steinbruch – und er hat eine Freundin, mit der er mehr tut als nur Händchenhalten. Das weiß Sabine sofort, als er Lydie mit nach Hause bringt, denn ein paar Tage zuvor saß Lydie bei ihr in der Sprechstunde, weil sie schwanger ist und abtreiben will, und Sabine der 16-Jährigen auch weiterhalf. Doch nun ist Lydie ein weiterer Störfaktor, der ihr Thomas entfremdet. Sie versucht, Lydie vom Haus abzuhalten – und Thomas ans Haus zu binden, indem sie behauptet, er wäre krank von dem Staub, den er im Steinbruch einatmet. Als der Arzt im Krankenhaus keine Schädigungen der Lungen feststellt, behauptet sie ihrer Freundin, der Krankenschwester Laurence, gegenüber, Thomas hätte eine Anämie. Thomas reagiert unwirsch, auch als sie ihn von einem zweiten Arzt untersuchen lässt. Er will weg von seiner dominanten Mutter, was fürs Erste eine Überschwemmung am Staudamm verhindert, die alle Straßen überflutet. Später verhindert Sabine, dass er das Haus verlässt. Sie stiehlt im Krankenhaus Medikamente, die Thomas so schwach machen, dass er im Bett bleibt. Und sie geht noch weiter – bis zu einem Verbrechen. Immer wieder sieht sich Sabine in Rückblenden mit Thomas, als er noch ein kleiner Junge ist, im Wald und am Wasser entlang laufend. Ob diese Bilder wahr sind oder Wunschträume, wird nicht deutlich, aber sie markieren Sabines verwirrten Seelenzustand. Zunehmend entfernt sie sich vom realen Leben und manipuliert das des Jungen, als hätte sie es doch nicht verkraftet, als Teenager schon Mutter zu werden. Dazu passen die Bruchstücke des Lebens, die die Kamera einfängt: Sabine liegt einsam im Bett, ihr Gesicht sieht seltsam entrückt aus; Sabine fährt im Auto vom Land in die Stadt und umgekehrt. Selbst wenn sie mit Thomas zusammen fährt, wird kaum ein Wort gesprochen, die beiden sehen sich nicht an. Sabine wandert am See entlang und blickt aufs Wasser, das halb steht, halb fließt. Nur einmal braust es richtig wie drei kleine Wasserfälle aus dem Wehr heraus in den See – und kurz drauf geschieht das Verbrechen, das Sabine aber kaum wahrnimmt. Die Lücken in der Geschichte, die eindringlichen Landschaftsaufnahmen, die den statischen Blick der Hauptdarstellerin wiederholen, und die spröde, kammerspielartige Atmosphäre schaffen eine innere Spannung, die den ganzen Film trägt. Mit der Belgierin Nade Dieu (u.a. „Nôtre Musique“, fd 37 358) in ihrer ersten Hauptrolle hat der Film eine hervorragende Darstellerin, die die rätselhafte, immer mehr ihren Wahnvorstellungen verfallende Frau mit großer Intensität und Zärtlichkeit spielt. In der schönsten Szene, als Sabine neben ihrem Sohn kniet, der in der Badewanne sitzt, glaubt man zwei Geschwister zu sehen. Die so jung aussehende Mutter ist der größte Coup des Regisseurs. Sabine war 15, als sie Thomas bekam, der wiederum jetzt 15 ist. So, wie Sabines Lebens damals stehen blieb, soll auch das ihres Sohns stehen bleiben. Das suggeriert dieses sanfte Bild, das doch voller Schrecken ist – ein wunderbarer, verstörender Film.
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