- | VR China/Hongkong 2006 | 108 Minuten

Regie: Jia Zhang-Ke

Vor dem Hintergrund des größten Staudamm-Projekts der Welt am Jangtse-Fluss in China, dem über eine Million Menschen weichen mussten, suchen ein Tagelöhner und eine besser gestellte Frau nach ihren jeweiligen Ehepartnern. Die Erlebnisse der Figuren aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten vermitteln Einblicke in die extrem widersprüchliche Lage der Menschen in der aufstrebenden Wirtschaftsmacht. Die ruhige, sorgfältige Kameraarbeit, deren ästhetischer Reiz in starkem Kontrast zum Elend der einfachen Bevölkerung steht, schafft einprägsame Bilder von metaphorischer Qualität, große Panoramen der Zerstörung ebenso wie phänomenologisch genaue Beobachtungen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SANXIA HAOREN
Produktionsland
VR China/Hongkong
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Shanghai Film Studios/Xstream Pic.
Regie
Jia Zhang-Ke
Buch
Jia Zhang-Ke
Kamera
Lik Wai Yu
Musik
Giong Lim
Schnitt
Jing Lei Kong
Darsteller
Han Sanming (Han Sanming) · Zhao Tao (Guo Shen-hong) · Wang Hong-wei (Wang Dong-ming)
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Die Bilder bleiben im Gedächtnis haften: eine grandiose Landschaft, wahrlich majestätisch, in die der Mensch brachial und unumkehrbar eingreift; Menschen, ärmlichst bekleidet, die schwerste Lasten vom Ufer über endlos anmutende Treppen nach oben in die Stadt wuchten; der alte, hilflose Besitzer einer kleinen Herberge, der wegen des steigenden Wasserspiegels umgesiedelt wird – wie über eine Million Leidensgenossen auch; makaber anmutende, lautstarke Diskussionen erzürnter, sich betrogen fühlender Menschen mit einem Funktionär, den man fast schon bemitleiden möchte, ahnte man nicht, dass seine Widersacher triftige Gründe für ihren Zorn haben. Ein Film im Stil des Direct Cinema, der fesselnde und tragische Szenen in sich vereint wie sonst ein veritabler Monumentalfilm. Die Rede ist hier nicht von „Still Life“, sondern von „Yan Mo – Vor der Flut“ (fd 37 364), den Yan Lu und Li Yifan 2002 in Fengjie gedreht haben. „Vor der Flut“ wirkt wie das dokumentarische Pendant zu Jia Zhang-Kes Spielfilm, den dieser ebenfalls an jenem chinesischen Schauplatz angesiedelt hat, der immer wieder international für Schlagzeilen sorgt, weil dort der berühmt-berüchtigte „Drei-Schluchten-Staudamm“ entsteht: das mit 185 Metern Höhe und über zwei Kilometern Breite größte derartige Projekt der Menschheit, dessen Stausee mehrere 100 Kilometer flussaufwärts reicht und schwerwiegende Konsequenzen für Menschen und Umwelt haben wird. Mit einiger Distanz fällt es schwer, im Kopf die Bilder zu trennen, die man aus dem einen oder dem anderen Film mit sich trägt – kaum kann man von dem einen schreiben, ohne an den anderen denken zu müssen. Ein Mann und eine Frau stehen im Mittelpunkt beider Geschichten, die „Still Life“ säuberlich getrennt voneinander erzählt. Beide sind sie nach Fengjie gekommen, um ihre jeweiligen Ehepartner wiederzufinden. San-ming, ein Bergmann aus der Provinz Shanxi (gespielt vom früheren Bergmann Han San-ming, der als Laiendarsteller schon in früheren Filmen Jia Zhang-Kes auftrat), sucht seine Frau Missy, die er einst gekauft hat und die ihn vor 16 Jahren mit ihrem gemeinsamen Kind verlassen hat. In einer kleinen Tasche steckt sein ganzes Hab und Gut. Die Adresse, die Missy ihm einmal gab, existiert nicht mehr; die Fluten des Jangtse haben das Haus längst unter sich begraben. Mühsam, aber beharrlich und mit stoischer Ruhe fragt sich San-ming durch und landet schließlich bei missmutigen Verwandten seiner Frau, die ihm zumindest ihren ungefähren Aufenthaltsort nennen können. Bis zu ihrer Rückkehr nach Fengjie verdingt er sich als Abbrucharbeiter, um wie unzählige andere Tagelöhner mit primitivsten Werkzeugen die Häuser einzureißen, die unterhalb der zukünftigen Höchstwassermarke liegen und schon längst von ihren Bewohnern verlassen wurden. In einer schäbigen Herberge, die demnächst ebenfalls dem Staudamm geopfert wird, freundet er sich mit dem halbstarken Bing an, der den Filmstar Chow Yun Fat nachäfft und später unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt. Einige soziale Schichten höher spielt die Parallelhandlung: Guo Shen-hong hat seit zwei Jahren nichts mehr von ihrem Mann gehört, der damals als Verkaufsleiter aus Shanxi nach Fengjie zu einem Industriebetrieb ging. Auch diese Firma wurde jüngst dem Stausee geopfert. Ein Bekannter ihres Mannes, ein Archäologe, hilft ihr weiter und stellt tatsächlich den Kontakt zwischen den Eheleuten her. Hat der Mann, der jetzt eine höhere Stelle in der Abrissbehörde bekleidet, eine Geliebte? Ratlos steht das Paar voreinander, der mächtige Staudamm dominiert den Hintergrund. Die Frau ist es schließlich, die den entscheidenden Satz ausspricht. Zwei betont private Ereignisse vor dem Hintergrund gewaltiger gesellschaftlicher und ökonomischer Umwälzungen: der Kontrast könnte kaum stärker sein. Weder Arm noch Reich kann sich den rasenden Veränderungen entziehen, wenn auch mit unterschiedlich weitreichenden Konsequenzen. Tatsache ist, daran lässt der Film keinen Zweifel, dass das ökonomische Denken, das Streben nach persönlichem Vorteil, überall Einzug gehalten hat: Der junge Fahrer des Motorrad-Taxis ist davon ebenso durchdrungen wie es die windigen Trickspieler sind, die sich ihr „geistiges Eigentum“ bezahlen lassen wollen. Je jünger oder reicher die Menschen, desto empfänglicher scheinen sie dafür zu sein. Solidarität gibt es – zumindest zeigt es so der Film – am ehesten noch unter der Gruppe der Tagelöhner. San-mings Freund bringt es auf den Punkt: „Die neue Gesellschaft ist nichts für uns, wir sind dafür zu nostalgisch.“ Die hoffnungslose Situation der Tagelöhner wird brutal ausgenutzt; auf ihrem Rücken, mit ihren Hungerlöhnen strebt China als Wirtschaftsmacht nach oben. Sie tragen in jeder Hinsicht ihre Haut zu Markte: Während Desinfektionstrupps in Schutzanzügen zwischen den Häuserruinen unterwegs sind, verrichten sie halbnackt und bewaffnet mit primitiven Schlaghämmern ihre zerstörerische Arbeit. „Still Life“ ist ein Film der imposanten Bilder, die einen mit ihrer emotionalen Kraft in Bann schlagen. Die Kamera findet lakonisch-starke Einstellungen, überwältigende Panoramen in High Definition Video, die die apokalyptische Szenerie fast schon zu ästhetisch wiedergeben. Manchmal wähnt man sich in Tarkowskijs „Der Stalker“ (fd 22 921), dann wieder meint man, Coppolas „Apocalypse Now“ (fd 22 192) durchscheinen zu sehen. In krassem Widerspruch dazu steht die Welt der Reichen, die sich hoch über dem Stausee auf einer Terrasse mit Blick auf eine neue, mächtige Brücke im Takt sentimentaler Tanzmusik wiegen. Jede noch so langsame Kamerabewegung ist genau geplant, oft spielt sich das Wesentliche gerade während des Schwenks ab. Überhaupt ist „Still Life“ ein Film des phänomenologischen Blicks: Wer glaubt, dass nicht viel passiert, weil die Handlung nur langsam fortschreitet und sehr überschaubar bleibt, hat womöglich nicht richtig hingeschaut. Dass der Film, wenn auch gekürzt, sogar in China gezeigt wird, gehört zu den Merkwürdigkeiten des chinesischen Zensursystems, hat womöglich aber auch mit dem internationalen Ansehen zu tun, dass Zhang-Ke sich in der Zwischenzeit mit den Filmen „Pickpocket“(1997), „Platform“ (2000) und „Unknown Pleasures“ (2002) erworben hat. Oder man ist bei den chinesischen Behörden schon dankbar dafür, dass sich Jia Zhang-Ke bei der expliziten Kritik der Verhältnisse noch relativ zurückhält und eher metaphorische Bilder sprechen lässt.
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