Daratt - Zeit der Entscheidung

- | Tschad/Frankreich/Belgien/Österreich 2006 | 96 Minuten

Regie: Mahamat-Saleh Haroun

Nach der Generalamnestie für Kriegsverbrecher im Tschad erhält ein Teenager vom Großvater eine Pistole, um den Tod seines Vaters zu rächen. Es gelingt dem jungen Mann, den Mörder zu finden und sich als Lehrling in dessen wirtschaftlich bedrohte Bäckerei einzuschleusen. Je besser er den Mann kennen lernt, umso schwerer wird ihm die Durchführung seiner Selbstjustiz. Stilistisch konzentrierte, ganz von der Präsenz der Figuren getragene Tragödie, die die Notwendigkeit von Vergebung und Versöhnung nicht nur in dem vom Bürgerkrieg erschütterten afrikanischen Land aufzeigt. (O.m.d.U.; Lobende Erwähnung der SIGNIS-Jury, Venedig 2006) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
DARATT
Produktionsland
Tschad/Frankreich/Belgien/Österreich
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Chinguitty Films/Entre Chien et Loup/Goi-Goi Productions
Regie
Mahamat-Saleh Haroun
Buch
Mahamat-Saleh Haroun
Kamera
Abraham Haile Biru
Musik
Wasis Diop
Schnitt
Marie-Hélène Dozo
Darsteller
Ali Barkai (Atim) · Youssouf Djaoro (Nassara) · Hisseine Aziza · Khayar Oumar Defallah
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Diskussion
Die Regierung im Tschad hat eine allgemeine Amnestie für Kriegsverbrecher erlassen. Diese Neuigkeit erreicht den 16-jährigen Atim und seinen Großvater übers Radio. Es ist keine gute Nachricht für die Familie, bedeutet sie doch, dass Atim die Erschießung seines Vaters selbst rächen muss. Vom Großvater erhält er eine Pistole und wird in die Hauptstadt N’Djamena geschickt, um den Täter ausfindig zu machen. Die Suche nach dem unbekannten Mörder führt Atim zu Nassara, einen 60-jährigen, Respekt gebietenden Mann, der eine Bäckerei betreibt. Atim nähert sich ihm vorsichtig, beginnt für ihn zu arbeiten, um ihn in einem unverdächtigen Moment zu erschießen. Doch durch die Zusammenarbeit in der Backstube entwickelt sich eine seltsame Dynamik zwischen den beiden Männern. Die gemeinsame Arbeit ist durchwirkt von Neugier, Ablehnung, Zuwendung und Verunsicherung. Die beiden umkreisen einander, der eine unsicher, ob er Rache nehmen soll, der andere dabei, sich selbst fast aufzugeben angesichts der Konkurrenz durch eine Großbäckerei. Atim bringt es nicht übers Herz, Nassara zu erschießen, um so mehr, als der alte Bäcker ein Kind von seiner jungen Frau Aïcha erwartet. Nassara weiß nicht, dass er seinem Rächer gegenübersteht, hält ihn für einen Arbeitslosen, dem er eine Chance bietet. Die Verstrickung in das Geflecht von Schuld und Sühne verschärft sich, als Nassara den jungen Rächer als Sohn adoptieren möchte. Dazu braucht es die Einwilligung der Familie, und diese ist unter den gegebenen Umständen unmöglich. Atims Schweigen schlägt in einen Akt der Verzweiflung um. Er nimmt den Mörder seines Vaters mit in das Heimatdorf, wo der blinde Großvater auf die Nachricht der Erschießung wartet. Der junge Mann gerät vor eine folgenschwere Entscheidung zwischen Familienehre und zwischenmenschlicher Versöhnung. Vergebung und Versöhnung ist eine Frage von höchster Aktualität, nicht nur in Afrika. „Daratt“ entstand im westafrikanischen Tschad unter den Bedingungen ständiger Kämpfe. Das Land blickt auf einen 40-jährigen Bürgerkrieg zurück. Hier leben über 200 verschiedene Völker zusammen, was zu vielfältigen Problemen führt. Die Unabhängigkeitserklärung von 1965 hat die Opposition zwischen dem animistischen und christlichen Süden und dem arabisch-muslimischen Norden aufflammen lassen. Die Lage hat sich durch mehrere Friedensabkommen seit 2001 verbessert, bleibt aber höchst instabil. Die Regierung in N’Djamena, wo der größte Teil des Films verortet ist, ist weit davon entfernt, das Territorium unter Kontrolle zu haben. Durch die kumulierten Folgen von Krieg, Dürre und Hungersnot ist der Tschad ausgeblutet. Regisseur Mahamat-Saleh Haroun fängt mit zurückhaltender Beobachtung die alltägliche Lebenssituation ein. Er zeigt, wie selbstverständlich es ist, plötzlich mit einer Waffe bedroht zu werden, wie abgrundtief Gewalt in dem Land verankert ist: Zur männlichen Identität gehören der Waffenbesitz und die Fähigkeit, andere Menschen kaltblütig umzubringen. Eindringlich stellt der Film die Frage nach der Versöhnung über die Generationen hinweg: Wie ist ein friedliches Zusammenleben nach so viel Destruktion und Hass möglich? Wie soll man mit der Ungesühntheit des Verbrechens umgehen? Die Spannung zwischen der strukturellen Gewalt und der persönlichen Entscheidung tut sich schmerzhaft auf. Stilistisch vertraut der Film auf starre Einstellungen, ruhige Schwenks und die Konzentration auf die Protagonisten in Nahaufnahmen. Von beeindruckender Präzision ist die körperliche Präsenz der beiden Hauptdarsteller, die inszeniert sind wie zwei sich anschleichende Raubtiere. Die Körpersprache, die Blicke, der Austausch in der Begegnung wird atemberaubend einfach und unvermittelt dargestellt. Obwohl der Schauplatz die Hauptstadt des Tschad ist, tauchen die Bilder in die wildesten, primitivsten und erdhaftesten Kräfte ein, die den Menschen beherrschen können. Leitmotiv ist die ausgetrocknete Landschaft, eine Welt, in der es ständig heiß und meist gleißend hell ist. Der Schlussakt wird in die nördliche Wüste gelegt, in der es kein Entrinnen geben kann. Das Eintauchen in die Finsternis ist eine weitere Dimension: In der Bäckerei gibt es dunkle, begrenzte Räume, in denen die Figuren in Schweiß treibender Arbeit am Brot arbeiten. Aus dem Dunkel des Umkleideraums erlebt man das erste Mal einen Tötungsversuch. Als dieser missglückt, verschwindet die Pistole auf mysteriöse Weise. In der Nacht sinkt Atim in die Tiefen seiner Verzweiflung, betrinkt sich und beschafft sich die Waffe eines gewaltbereiten Soldaten. Der ganze Film ist ein Ringen zwischen den Kräften der Finsternis und der Helle, des Todes und des Lebens. Doch die Wechselwirkung der beiden Lichträume bleibt ambivalent: Selbst in der Backstube ist es der hell schimmernde Teig, der die Kontrahenten miteinander verbindet. Am helllichten Tag wird Atim von Polizeikräften willkürlich zusammengeschlagen, und auch das Brot als Grundnahrungsmittel ist zweideutig, denn die Produktion des Großverteilers gefährdet die Existenz des Bäckers. Der Film entstand im Zusammenhang mit dem 250. Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart und geht derselben Frage nach, die sich Mozart in „La clemenza di Tito“ stellte: Sind Vergebung und Versöhnung in unserem durch Kriege erschütterten Jahrhundert möglich? „Daratt“ ist verblüffend einfaches, elegantes cineastisches Geschichtenerzählen, reich an Bedeutung für unsere Zeit. Seine große Stärke liegt in der Art und Weise des Fragens, der körperlichen Präsenz der Figuren und der engagierten Erzählhaltung des Regisseurs.
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