- | Frankreich/Mali 2006 | 116 Minuten

Regie: Abderrahmane Sissako

In einem Hof in der Hauptstadt von Mali findet eine öffentliche Gerichtsverhandlung statt, bei der Vertreter der Zivilgesellschaft die Weltbank und den IWF anklagen, das Land durch ihre Finanzpolitik zugrunde zu richten. Der mit leichter Hand inszenierte, dramaturgisch raffiniert strukturierte Film untergräbt das Gerichtsfilm-Schema durch ein filigranes Geflecht fotografisch starker Momentaufnahmen, die den ideologischen Überbau mit der Wirklichkeit der Menschen in Bezug setzen. Der auf der Grenze zwischen Inszenierung und Dokumentation angesiedelte Film ermöglicht dabei den Perspektivenwechsel, Afrika einmal nicht durch westliche Kolonialklischees zu betrachten. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BAMAKO | LA COUR
Produktionsland
Frankreich/Mali
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Archipel 33/Chinguitty Films/Mali Images/arte France Cinéma
Regie
Abderrahmane Sissako
Buch
Abderrahmane Sissako
Kamera
Jacques Bessé
Musik
Christophe Winding
Schnitt
Nadia Ben Rachid
Darsteller
Aïssa Maïga (Melé) · Tiécoura Traoré (Chaka) · Maimouna Hélène Diarra (Saramba) · Habib Dembélé (Falaï) · Djénéba Koné (Chakas Schwester)
Länge
116 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Bamako heißt die Hauptstadt des westafrikanischen Staats Mali am südlichen Rand der Sahara. Man muss wohl zum Atlas greifen, um sich die Größe Malis zu verdeutlichen oder die Lage der Stadt zu lokalisieren: ein stecknadelkopfgroßer Fleck irgendwo im medialen Niemandsland. Doch Bamako ist auch der Ort, an dem Abderrahmane Sissako aufwuchs, das Zentrum seiner Welt, zumindest das seiner frühen Jahre. Was lag also näher, als dorthin zurückzukehren, wo er zu sprechen und zu denken begann, um an dem Ursprung seines mentalen Koordinatensystems einen Film zu drehen, der aus afrikanischer Sicht mit dem Westen ins Gericht geht, im wortwörtlichen Sinne, nämlich in Gestalt eines öffentlichen Prozesses mit Zeugen, Anwälten und Geschworenen? Bilanz ziehen, was vier Jahrzehnte nach der Entkolonialisierung aus Afrika geworden ist, aus all den Plänen und Projekten, mit denen die internationale Gemeinschaft die „unterentwickelten“ Länder auf den Weg von Prosperität und Fortschritt lenken wollte? Eine Verhandlung, in der Vertreter der malischen Zivilgesellschaft, unter ihnen auffällig viele Frauen, die desaströsen Folgen einer „Entwicklungspolitik“ auflisten, die das Land in die Schuldenfalle trieb; und aus der es ausgerechnet eine immer forciertere Privatisierung befreien soll, die doch der Grund für die Verelendung der vergangenen Jahre war. Ein solches Unterfangen klingt abenteuerlich und weckt Erinnerungen an die Russel-Tribunale oder das Theorie-Kauderwelsch der APO-Zeit. Doch Sissako, der stille Meister melancholischer Porträts („Warten auf das Glück“, fd 36 622), wischt bereits mit den ersten Einstellungen alle Befürchtungen vom Tisch. Sein Film beginnt und endet im Dämmerlicht, zwischen Tag und Nacht, Hoffnung und Verzweiflung. In einem Hof in Bamako, dem Anwesen von Sissakos Vater, versammeln sich Männer und Frauen aus unterschiedlichen Schichten; ein Polizist kontrolliert den Zugang, Anwälte und Richter schlüpfen in ihre Amtstracht, Helfer schleppen dicke Akten herbei; wer nicht vorgelassen wird, verfolgt vor dem Tor das Geschehen via Lautsprecher. Von diesem Trubel unbeeindruckt, nimmt das alltägliche Leben im geräumigen Hof seinen Lauf, wo Kinder spielen, Wäsche zum Trocknen in die Sonne gehangen wird oder eine alte Frau mit ihrer Enkelin Wolle spinnt. In einer anderen Ecke tauchen Arbeiterinnen einer Färberei Stoffbahnen in bunte Laugen, in einem Hinterzimmer ringt ein Kranker mit dem Tod, einmal zieht ein ausgelassener Hochzeitszug über den Platz. Dreh- und Angelpunkt indes bleibt der Prozess mit seinen Zeugenaussagen, Plädoyers und Gegenreden, in dem Menschen unterschiedlichster Provenienz zu Wort kommen. Während das Parlando der Juristen jedem Court-Room-Drama genügen würde, sprengen die „Zeugen“ die vertrauten Erzählschemata, weil sie ihre Lebenswirklichkeit nicht abstreifen können. Ein hagerer, tieftrauriger Mann wird aufgerufen, der als Profession „ehemals Lehrer“ angibt; doch auf die Bitte, seine Erfahrungen zu schildern, will sich kein Wort von seinen Lippen lösen; resigniert wendet er sich schließlich ab und schleicht mit hängenden Schultern davon; ein Greis springt nach Tagen, in denen er ein ums andere Mal vertröstet wurde, plötzlich auf und stürmt nach vorn, um in einem zornigen Singsang seiner Seele Luft zu machen; ein Jugendlicher schildert stockend, wie seine Gefährten beim Versuch, nach Europa zu gelangen, in der Sahara ums Leben kamen. Aus allen Einlassungen entsteht das bedrückende Bild eines Landes (und Kontinents), dem die wichtigsten Grundlagen seiner Existenz bereits jetzt entzogen sind. Zu den Verursachern, die dafür ausgemacht werden, gehören das internationale Finanzsystem und seine prominentesten Agenten, Weltbank und Internationaler Währungsfond. Die katastrophalen Folgen vieler unter deren Ägide ins Werk gesetzter Maßnahmen sprechen für sich, und auch die Frage nach der fehlenden Kontrolle dieser Institutionen klingt schmerzhaft in den Ohren. Dennoch ist „Bamako“ alles andere als Agitprop-Kino, und selbst die Kennzeichnung als hintersinnige Parabel greift noch zu kurz, weil sie die erzählerischen Eigenarten nicht genügend zur Geltung bringt. Der mit leichter Hand und hohem dramaturgischen Raffinement inszenierte Film ist von einem filigranen Geflecht zumeist wortloser, fotografisch immens starker Momentaufnahmen durchzogen, die auf der Grenze zwischen Inszenierung und Dokumentation einen Perspektivenwechsel ermöglichen: Afrika einmal nicht durch die westlichen Kolonialklischees, sondern ansatzweise durch eine afrikanische Brille zu sehen. So wie sich in Sissakos Hof Öffentliches und Privates berühren und die visuellen Abschweifungen das Knäuel der Argumente auflockern, so verschränken sich hier auf höchst cineastische Weise Reflexion und Kontemplation, die den ideologischen Überbau der neuerlichen Kapitalismuskritik mit der Wirklichkeit eines der ärmsten Länder der Welt in Bezug setzen und dabei vor allem die einfachen Menschen im Blick behalten.
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