Drama | Deutschland 2005 | 92 Minuten

Regie: Isabelle Stever

Eine 28-jährige Supermarkt-Kassiererin entflieht mit Hilfe eines Jugendfreundes und dessen Kumpan, der sie sexuell begehrt, ihrer einengenden Ehe, ohne sie freilich aufs Spiel zu setzen. Sie genießt Sex, Aufmerksamkeit und Abwechslung und auch, dass zwei Männer um sie konkurrieren. Ein konsequent naturalistisch inszeniertes kleines Meisterwerk über das Leben junger Erwachsener aus der unteren Mittelschicht, das subtil den Teufelskreis von Machtlosigkeit, Frustration und Langeweile einfängt. Die Authentizität wird durch das intensive Spiel der Darsteller noch unterstrichen. - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
TAG-TRAUM Filmprod./WDR
Regie
Isabelle Stever
Buch
Isabelle Stever · Anke Stelling
Kamera
James Carman
Musik
Jochen Arbeit · Yoyo Röhm
Schnitt
Christian Krämer
Darsteller
Anne Weinknecht (Gisela) · Stefan Rudolf (Georg) · Carlo Ljubek (Paul) · Horst Markgraf (Mirko) · Esther Zimmering (Bettina)
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. den Kurzfilm "Requiem für etwas, das sehr klein ist".

Verleih DVD
Filmgalerie451 (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Nach ihrem bewundernswert risikobereiten Debüt „Erste Ehe“ (fd 36 029) seziert dffb-Absolventin Isabelle Stever (Jahrgang 1963) erneut postadoleszente Selbstfindungsprozesse inmitten von Trinkgelagen, zielloser Aggressivität und verletzender Selbstbezogenheit. Die verheiratete 28-jährige Gisela lebt mit Mann und Kind im sozialen Wohnungsbau und arbeitet in einem Supermarkt als Kassiererin. Als ihr Jugendfreund Georg sie zu einer Party in seiner zugemüllten Wohnung einlädt, geht sie hin und lässt sich sogleich auf Sex mit seinem Kumpel Paul ein, während die betrunkene Partygesellschaft draußen die Gegend unsicher macht. Je mehr Georg die körperlichen Qualitäten der übergewichtigen Gisela in Frage stellt, desto mehr prahlt Paul mit der sexuellen Erfüllung, die er mit ihr bei den regelmäßigen Treffen findet, ohne, zumindest aus seiner Sicht, mit einer emotionalen Beziehung belastet zu werden. Ähnlich wie in Patrice Chéreaus „Intimacy“ (fd 34 894) sucht Gisela bei Paul hingegen neben Sex Aufmerksamkeit und Abwechslung, die sie bei ihrem notorisch nörgelnden und älteren Mann nicht findet. Während sich bei Paul Überdruss einstellt, gerät der ohnehin zu Exzessen und Autodestruktion neigende Georg aus Eifersucht zunehmend außer Kontrolle, betrinkt sich besinnungslos, klaut Autos für kurze Spritztouren und provoziert Schlägereien. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie suggestiv, sachlich und zugleich subtil-komisch Stever diese gänzlich unromantische Dreiecksgeschichte erzählt, die auf einer Romanvorlage von Anke Stelling und Robby Dannenberg beruht. Es ist das authentische Porträt des unspektakulären Lebens von jungen Erwachsenen der unteren Mittelschicht, das sich auch jenseits der deutschen Grenzen in jeder anderen Sozialbausiedlung Europas abspielen könnte. Die Figuren, vor allem die beiden arbeitslosen und in den Tag hinein lebenden Männer, sind gefangen in einem Teufelskreis aus Passivität und Machtlosigkeit, Frustration, Langeweile und Stumpfsinn. Sex, Alkohol und sinnlose Provokationen sind die einzigen Fluchtpunkte. Dennoch hat der dichte und äußerst ökonomisch erzählte Film nichts von einer Sozialanklage. Er verzichtet auf künstliche melodramatische Linien oder moralische Urteile und zeigt sogar so etwas wie kurzes Glück inmitten einer lichtdurchflutet sommerlichen Natur. Sowohl visuell als auch narrativ verlässt sich das kleine Meisterwerk ganz auf eine konsequente naturalistische Inszenierung, die mitunter stark an die Atmosphäre der Berliner Schule erinnert: Harte Schnitte, nüchternes, realitätsnahes Dekor und ungemein intensives Spiel der unverbrauchten Darsteller. Dazu passt, dass die Regisseurin selbst in Angela Schanelecs „Plätze in Städten“ (fd 33 700) mitgespielt hat. Dennoch gelingt der gebürtigen Münchnerin ein ganz eigener Zugang zu ihren mitunter unerträglich wortkargen und verschlossenen Figuren. Stefan Rudolf fällt der dankbare Part des Haudrauf-Prolls zu, der nicht nur verbal um sich schlägt, sondern hinter der rauen Fassade und ostentativen Körperlichkeit eine nie ausgesprochene und nicht näher definierbare Sehnsucht verbirgt. In den besten Momenten erinnert seine Interpretation an den jungen Marlon Brando in „Endstation Sehnsucht“ (fd 1545) – nur dass Stever ihm nie die Chance zur letzten befreienden Eskalation gibt. Als er sich zusammengeschlagen, auf dem Sofa liegend, von Gisela versorgen lässt, ist das so rührend unbeholfen wie vorhersehbar kalkuliert. Zum Schluss sind die Spannungen zwischen den dreien größer denn je und die Konkurrenz der Männer um die in ihrer Ehe stoisch ausharrende Frau in vollem Gange, wenn sie ihr auf einer Bank sitzend dabei zusehen, wie sie mit sicherem Abstand von Mann und Kind an ihnen vorbeispaziert. In dieser kurzen, wunderbar zärtlichen Schlussszene hat Gisela die Leinwand für sich allein, sanft lächelnd und sich ihrer Präsenz bewusst. Und das ist weitaus erquicklicher als beim Rütteln an den Gitterstäben der Verhältnisse wie Emma Bovary zugrunde zu gehen.
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