Stellas Versuchung

Drama | Großbritannien/Irland 2005 | 100 Minuten

Regie: David Mackenzie

Die depressive Frau eines Psychiaters, der die Position des stellvertretenden Leiters einer Anstalt im Norden Englands antritt, beginnt eine Affäre mit einem Patienten, wobei sie zunehmend den Boden unter den Füßen verliert. Die Zeichnung einer von Verfall und Krankheit gezeichneten degenerierten Gesellschaft und ihrer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konventionen, Geschlechterrollen und Moralvorstellungen. Auch wenn der Film in seinen Symbolismen mitunter etwas zu dick aufträgt, regt er intensiv zum Nachdenken über die Frage an, wo die Grenze zwischen Kranken und Gesunden verläuft.
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Filmdaten

Originaltitel
ASYLUM
Produktionsland
Großbritannien/Irland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Mace Neufeld Prod./Samson Films/Seven Arts Prod./Zephyr Films
Regie
David Mackenzie
Buch
Patrick Marber · Chrysanthy Balis
Kamera
Giles Nuttgens
Musik
Mark Mancina
Schnitt
Colin Monie · Steven Weisberg
Darsteller
Natasha Richardson (Stella Raphael) · Hugh Bonneville (Max Raphael) · Gus Lewis (Charlie Raphael) · Marton Csokas (Edgar Stark) · Ian McKellen (Dr. Peter Cleave)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; nf
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
CinePlus (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
In seinem abgründigen Drama „Young Adam“ (fd 36 814) verlieh David Mackenzie den 1950er-Jahren einen ganz speziellen „gothic“- Look. Dunkle Grau- und Blautöne, kaltes Licht und das düstere Setting auf einem Kohleschlepper ließen das Klima von Unterdrückung, Verbot und Bestrafung extrem klaustrophobisch erscheinen. In „Stellas Versuchung“ – wieder ein Film, der in den 1950er-Jahren des vorigen Jahrhunderts spielt – sind Enge und Begrenzung ein noch expliziteres Thema, denn der Handlungsort ist im Wesentlichen eine psychiatrische Anstalt. Nicht zufällig erinnert der auf dem Roman „Asylum“ basierende Film an David Cronenbergs „Spider“ (fd 36 512) – beide Buchvorlagen hat der Autor Patrick McGrath geschrieben. Doch während Cronenberg in seiner recht abstrakten Umsetzung den Versuch unternommen hat, das Innenleben seines psychisch kranken Protagonisten sichtbar zu machen, ist die Perspektive Mackenzies eine kühl beobachtende, sehr distanzierte. „Asylum“ ist nicht nur der englische Begriff für Anstalt, sondern auch für Zuflucht, Schutz, Asyl. Diese Mehrfachbedeutung geht im deutschen Verleihtitel leider verloren, dabei ist das Thema des Films genau die fehlende Zuflucht, an der die Hauptfigur Stella Raphael zerbricht. Ihr Ehemann hat die stellvertretende Leitung einer psychiatrischen Anstalt im Norden Englands übernommen, nun zieht er mit Frau und Kind auf das hoch gesicherte Gelände, das die Atmosphäre eines Mausoleums ausstrahlt. Max Raphael hofft eines Tages die Leitung zu übernehmen, Stella soll ihn dabei unterstützen – durch vorbildliches, möglichst zurückhaltendes Auftreten sowie die Erfüllung sozialer Pflichten, dazu gehören vor allem Kaffeekränzchen mit den anderen Ehefrauen. Stella langweilt sich. Auf die Frage, mit welcher Beschäftigung denn ihre Vorgängerin die Zeit verbracht hätte, erfährt sie von einem gestickten Gobelin. Ihre Depression beginnt langsam und verwandelt sich in eine sanfte Rebellion. Sie trinkt ein bisschen zu viel, fällt auf. Stella weiß nicht wohin mit sich und ihrem Begehren und beginnt eine Affäre mit dem Patienten Edgar, der in einem Anfall krankhafter Eifersucht seine Frau getötet hat. Die Begegnungen der beiden in einem ramponierten Gartenhaus sind kurz und heftig. Schneller, grober Sex – eine fast schon klassische amour fou. Edgar flieht aus der Anstalt, Stella verlässt ihre Familie und folgt ihm in sein Versteck, ein leer stehendes Haus. Die Geschichte steuert zielstrebig auf einen Rückfall Edgars zu, nimmt dann aber eine andere Wendung, und die katastrophalen Ereignisse überstürzen sich. Durch diese Häufung dramatischer Ereignissen wirkt die Erzählung zunehmend überfrachtet, verliert an Konzentration und Glaubwürdigkeit. Stellas fortschreitender Übergang von der scheinbar „gesunden“ Seite zu derjenigen der Kranken findet seinen Ausdruck in ihrer schwindenden körperlichen Präsenz: Sie wird buchstäblich „weniger“, eingefallen und schmal, entfernt sich immer mehr – zuletzt sieht sie dem Ertrinken ihres Sohnes apathisch zu. Natasha Richardson beeindruckt als Stella, der Verfall der Figur ist aber nicht wirklich nachvollziehbar. Selbst als Edgars Persönlichkeit sich drastisch zum Unberechenbaren und Gewalttätigen verändert, verrennt sie sich immer mehr in die Beziehung. Mackenzie stellt Sex als eine Art Virus dar, der die beiden infiziert, sie verzehrt und zerstört. Umso inkonsequenter wirkt es, dass das sexuelle Verhältnis gegen Ende zur großen romantische Liebe überhöht wird. Zu viele Geschichten werden in „Stellas Versuchung“ erzählt, zu viele und unterschiedliche Verhältnisse angerissen. Im letzten Teil wird Edgars Arzt Dr. Cleave zur zentralen Figur, sehr dämonisch von dem virtuosen Ian McKellen gespielt. Die Betreuung von sexualpathologischen Fällen scheint ihm regelrechte Befriedigung zu verschaffen. Als er Stella detailliert den Mord an Edgars Frau schildert, dann tut er dies nur vordergründig, um sie vor einer bevorstehenden Gefahr zu warnen. Er genießt seine Erzählung wie eine Gruselgeschichte und erfreut sich auch an dem Schauer, den er bei Stella auslöst. Die Figur des Psychiaters hat durchaus Züge des „mad scientist“, er liebt die Macht und glaubt sich im Besitz seiner Patienten, insbesondere Edgars. Der schlaue, manipulative Dr. Cleaver steht den beiden anderen männlichen Hauptfiguren ziemlich schematisch als Kontrastfigur gegenüber: dem strebsamen und biederen Max und dem animalischen Edgar, der seine physische Energie in Bildhauerei sublimieren muss – auf die etwas abgenutzte Verbindung von Kunst und Wahnsinn hätte man besser verzichtet. Dennoch gelingt es David Mackenzie für die Atmosphäre von Verfall und Krankheit intensive Bilder zu finden – auch wenn ihre Symbolik etwas zu durchsichtig ist: Zerbrochene Fensterscheiben und zerfallene Häuserruinen als Zeichen für die Instabilität der Verhältnisse (und auch der eigenen Identität) gibt es zuhauf. Schwere Türen und dicke Schlösser sowie die düsteren und labyrinthischen Gänge der Anstalt zeigen die Psychiatrie nicht nur als einen repressiven Machtapparat, sondern stehen auch für die Zwänge gesellschaftlicher Konventionen und tradierter Geschlechterrollen, die von starren Moralvorstellungen verdrängten (sexuellen) Wünsche. Alle Figuren in „Stellas Versuchung“ leiden in irgendeiner Form an einem verkorksten Trieb, einem unterdrückten Begehren: Eifersucht, Ehrgeiz, Besitz – und Machtgier. So zeigt Mackenzie die psychiatrische Anstalt als einen erschreckenden Unort, der jede Grenze zwischen Kranken und Gesunden im Grunde schon längst aufgehoben hat.
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