Angel - Ein Leben wie im Traum

Melodram | Großbritannien/Frankreich/Belgien 2006 | 119 Minuten

Regie: François Ozon

Im England des frühen 20. Jahrhunderts avanciert eine junge Frau zur gefeierten Schriftstellerin von romantischen Liebesromanen und konstruiert um sich herum eine kitschige Scheinwelt. Ihre Selbstüberschätzung und ihr Reichtum machen sie glauben, alles liefe nach ihren Wünschen, bis ihre große Liebe während des Ersten Weltkriegs scheitert und ihre Bücher gemieden werden. An Hollywood-Melodramen der 1940er- und 1950er-Jahre orientierter, aufwändiger Film um einen willensstarken weiblichen Don Quijote und die zwiespältige schöpferische Macht der Fantasie. Der Regisseur lässt sich radikal auf die Perspektive seiner Hauptfigur ein und reizt die Ästhetik der Melodramen bis zur Verfremdung aus. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ANGEL | THE REAL LIFE OF ANGEL DEVERELL
Produktionsland
Großbritannien/Frankreich/Belgien
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Fidélité/Poisson Rouge/SCOPE Invest
Regie
François Ozon
Buch
François Ozon
Kamera
Denis Lenoir
Musik
Philippe Rombi
Schnitt
Muriel Breton
Darsteller
Romola Garai (Angel) · Charlotte Rampling (Hermione) · Lucy Russell (Nora Howe-Nevinson) · Michael Fassbender (Esmé) · Sam Neill (Théo)
Länge
119 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Melodram
Externe Links
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Heimkino

Die Extras der DVD (Concorde) umfassen u.a. ein Feature mit nicht verwendeten Szenen (15 Min.).

Verleih DVD
Concorde/EuroVideo (16:9, 1.85:1, DD5.1 engl./dt., dts dt.) Pidax (16:9, 1.85:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Mit dem Verhältnis von Realität und Traum, Kreativität und Wahnsinn ist es bei François Ozon nicht einfach bestellt. Wo das eine endet und das andere beginnt, erschließt sich nicht immer auf den ersten Blick. Am schönsten verkörperten dies die von Charlotte Rampling gespielten Frauengestalten in „Unter dem Sand“ (fd 35 132) und „Swimming Pool“ (fd 36 089) und ihre mal sensibel, mal grell nach außen gewendeten (Un-)Bewusstseinsprozesse. In „Angel“ begegnet dem Publikum nun eine Frauenfigur, die die Dichotomie von Realität und Fantasie anscheinend spielend überwunden hat. In einer explosiven Mischung aus naivem Willen zur Macht und mädchenhafter Fantasie unterwirft sie sich die Wirklichkeit mit einer Unbeugsamkeit und Ignoranz, die zugleich belustigt und erschüttert. Ironischerweise manifestiert sich so der zeitgenössische Slogan „Lebe deinen Traum“ ausgerechnet in einer Frau des beginnenden 20. Jahrhunderts auf kaum zu überbietende Weise. „Angel“ basiert auf dem 1957 erschienenen Roman der britischen Autorin Elizabeth Taylor, dem wiederum die Biografie der Schriftstellerin Marie Corelli (1855–1924) zugrunde lag. Ozon gibt an, bis auf leichte Modifikationen einiger Charaktere – Angel kommt im Film sympathischer und attraktiver daher – nur wenig verändert zu haben. Zu Beginn sieht man die Titelfigur in blassen Farben, es ist Winter, vor den ihr verschlossenen Pforten des herrschaftlichen Anwesens „Paradise House“ stehen. Zwar rüttelt sie nicht gerade an den Eisengittern, aber dennoch fühlt man sich an einen deutschen Bundeskanzler der jüngeren Vergangenheit erinnert, der ebenfalls vom unbändigen Wunsch beseelt war, Traum und Realität zur Deckung zu bringen. Angel wird jedoch nicht von normalem Ehrgeiz geleitet. Vielmehr schreibt das Mädchen mit ihrer stürmisch-romantischen Einbildungskraft vor allem gegen ihre Herkunft an: gegen eine kleingeistige Umwelt in einer britischen Kleinstadt, wo ihre Mutter einen Gemischtwarenladen führt. Dass eine Lehrerin ihr vorwirft, in ihren schwülstigen Texten bei Dickens und anderen großen Dichtern abzukupfern, wirft nicht nur einen bezeichnenden Blick auf die Umwelt des Mädchens, sondern gießt zusätzlich Öl in ihr Stürmen und Drängen, weil es ihre Kampfeslust anstachelt. Als es Angel tatsächlich gelingt, in Théo einen Verleger für ihre Geschichten zu finden, weigert sie sich, beleidigt und beseelt von der Idee ihrer Außergewöhnlichkeit, auch nur ein Komma am Text zu ändern. Und kommt damit durch. Wie Théos Ehefrau, von Charlotte Rampling beherrscht gespielt, später bemerkt, auch deshalb, weil sich ihr Mann dezent in das kokett-freche Gör verguckt. Ozon unterlässt es weitgehend, Angels Verhalten oder ihre Texte zu beurteilen. Einzig in den Bildern einer Theaterinszenierung nach einem von Angels Romanen macht der Film klar, was der Zuschauer schon ahnt: Angel produziert nichts anderes als gut zu verkaufenden Kitsch. Was an sich keine Schande ist – noch heute lässt sich davon vortrefflich leben. Mit dem plötzlichen Reichtum im Rücken, den ihr das zweifelhafte Talent, gepaart mit einem sagenhaften Durchsetzungswillen, verschafft hat, verliert sie aber vollends den Boden unter den Füßen und glaubt, über ihre gesamte Umwelt verfügen zu können. In „Paradise House“, das eines Tages zum Verkauf steht und von ihr erworben wird, richtet sie sich ganz nach ihrem verschrobenen Geschmack ein. In Nora findet sie eine Art Sekretärin, die ihr bedingungslos untergeben ist, bis hin zu zaghaften sinnlichen Annäherungen. Komplexer ist dagegen Angels Verhältnis zu Noras Bruder Esmé, einem Maler, der im Gegensatz zu ihr einen düsteren, unverkäuflichen Stil pflegt. Nicht zuletzt von Angels Reichtum angezogen, lässt er sich wider alle Vernunft auf eine Heirat ein, obwohl er ihren Charakter durchschaut und diesen in einem Gemälde auf fast schon schockierende Weise zum Ausdruck bringt. Angel glaubt tatsächlich, ihre große Liebe gefunden zu haben – bis sich Esmé bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs entschließt, an die Front zu gehen. Krieg und Politik werden zu Angels großen Feindbildern, gegen die sie anschreibt – und damit ihre Anhängerschaft verliert. Rasend schnell und betont melodramatisch geht es von da an immer weiter abwärts: Angel verliert das gemeinsame Kind während der Schwangerschaft, Esmé, der ein Bein im Krieg verloren hat, führt in London ein Doppelleben und begeht schließlich aus Verzweiflung Selbstmord. Ozon orientierte sich nach eigenen Aussagen an den klassischen Melodramen der 1940er- und 1950er-Jahre von Douglas Sirk, Vincente Minnellis „Gigi“ (fd 7670) und, was die Zeichnung der Hauptfigur angeht, besonders an „Vom Winde verweht“ (fd 2293). Auch William Wylers „Jezebel“ (1938) und ein Hauch von „Sunset Boulevard“ (fd 1149) liegen über dem Film. Allerdings stehen der große produktionstechnische Aufwand und die aufwändige Ausstattung in auffälligem Gegensatz zur Wirkung des Films. Ähnlich wie Soderberghs Film-noir-Hommage „The Good German“ (fd 38 062) fehlt es „Angel“ an innerer Überzeugungskraft. Weder springt der melodramatische Funke auf den Zuschauer über, dafür ist der Film zu abgeklärt und seine Hauptfigur zu plakativ; noch schafft es Ozon, dem Genre eine eigene Note zu verleihen, etwa indem er es subversiv unterwandert, wie etwa bei seinem Musical „8 Frauen“ (fd 35 480). So bleibt der Film über weite Passagen reine Oberfläche, eine Fingerübung, in der Ozons großes Talent, die Doppelbödigkeit, nicht zum Tragen kommt.
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