WWW - What a Wonderful World

- | Marokko/Frankreich/Deutschland 2006 | 99 Minuten

Regie: Faouzi Bensaïdi

Ein schweigsamer Killer, der seine Aufträge aus dem Internet bezieht, verliebt sich in die Stimme einer Verkehrspolizistin, die ihrerseits in Liebe zu ihm entbrannt ist, obwohl sie weder seine Identität noch seine Profession kennt. Eine bildmächtige, kühn inszenierte Burleske vor der Kulisse der marokkanischen Stadt Casablanca, die anspielungs- und zitatenreich durch die Filmgeschichte zappt und dabei nicht nur der Cinephilie huldigt, sondern auch die Widersprüche der sich beschleunigenden Moderne einer Revision unterzieht. (O.m.d.U.) - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
WWW - WHAT A WONDERFUL WORLD
Produktionsland
Marokko/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Gloria/Agora/Heimatfilm/Soread-2M/ZDF/arte
Regie
Faouzi Bensaïdi
Buch
Faouzi Bensaïdi
Kamera
Gordon Spooner
Musik
Jean-Jacques Hertz · François Roy
Schnitt
Faouzi Bensaïdi · Véronique Lange
Darsteller
Faouzi Bensaïdi (Kamel) · Nezha Rahil (Kenza) · Fatima Attif (Souad) · Hajar Masdouki (Fatima) · El Mehdi Elaaroubi (Hicham)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Von Casablanca nach Rabat ist es ungefähr so weit wie von Buster Keaton zu Johnny To: nicht viel mehr als einen Augenschlag – zumindest im entfesselten Kinokosmos des Marokkaners Faouzi Bensaïdi, dessen zweiter Spielfilm leicht als wahnwitziges Experiment missverstanden werden könnte; denn die Überfülle an Anspielungen, Zitaten, Genres und Stilen tendiert dazu, den Anschein der Kohärenz ganz ins Belieben des Betrachters zu stellen und es ihm zu überlassen, die in tausend Farben schillernden Fragmente miteinander in Bezug zu setzen. Denn was beschwingt im animierten Flower-Power-Design der späten 1960er-Jahre anhebt, changiert zwei Szenen später bereits zwischen Elia Suleiman und Sergio Leone; mischt Burleskes mit Jacques Tati oder tänzelt zwischen Musical und Film noir, wobei die Romanze zwischen dem Killer Kamel und der Verkehrspolizistin Kenza noch gar nicht erwähnt ist, die wie die Liebenden in jeder großen Liebesgeschichte nicht zueinander finden. Auf den Spuren von Melvilles einsamen Auftragsmördern geht dieser Kamel seiner Tätigkeit nach, eine stumme Gestalt mit tieftraurigen Augen, aber der Präzision eines Uhrmachers, der nach getaner Arbeit ebenso vorhersehbar die Gelegenheitsprostituierte Souad zu sich in sein Penthouse über den Dächern von Casablanca bestellt, ohne mehr als kurzweilige Entspannung zu finden. Erst als die Stimme von Souads Freundin Kenza per Mobiltelefon an sein Ohr dringt, öffnen sich Mund und Herz des Killers, der fortan mehr an ihre Worte als an seine Aufträge denkt – was seiner Professionalität wenig bekommt. Doch auch Kenza, die auf Casablancas berühmtester Kreuzung den Verkehr wie ein Ballett dirigiert, ist schwer verliebt: in eben jenen Kamel, dem sie eines Nachts im Bus begegnet war. Allerdings kennt sie weder seinen Namen, noch ahnt sie, dass Souads schweigsamer Freier jene magische Erscheinung ist, nach der sie seitdem die Stadt durchstreift. In der anrührendsten Szene des Films fahren beide zusammen im Lift, ohne sich zu erkennen, obwohl die Spannung mit Händen zu greifen ist: Kamel, auf der Flucht vor der Polizei mit einer weißen Perücke als Frau verkleidet, Kenza in Zivil, aber ohne ein Wort zu sagen. Die visuelle Auflösung dieser traumhaften Momente verrät viel über die inszenatorische Bildkunst Bensaïdis, der die beiden Protagonisten an die Ränder des CinemaScope-Formats drängt, sodass jeweils nur eine Hälfte ihrer Gesichter zu sehen ist, auf denen sich die widerstrebendsten Gefühle spiegeln. Spannung und Irritation sind dabei jedoch nicht alles, weil sich in der nach unten gleitenden Kabine aus Glas das milde Tageslicht wie in einem Perlenspiel bricht. Ähnlich virtuos sind weite Teile des heftig mäandernden und streckenweise auch ausufernden Films gestaltet, der nicht nur Kamel und Kenza folgt, sondern auch Souad, die in ihrem Hauptjob in einer Villa putzt und das edle Interieur dabei gelegentlich für Tanzeinlagen à la Busby Berkeley nutzt. Das Erstaunliche an dieser atemberaubenden Hommage ans Kino aber ist, dass Bensaïdi sich nicht im Wirrwarr der Codes und Zeiten verliert und auch nicht der Versuchung erliegt, der Postmoderne ein Epitaph zu errichten. Dem 40-jährigen Regisseur, Autor, Cutter und Hauptdarsteller in Personalunion, scheint es neben lustvoller Cinephilie und dem ehrenwerten Versuch, aus den Klischees des arabischen Kinos auszubrechen (die er mit seinem Erstling „Mille mois“ selbst noch bediente), auch um eine Revision der Moderne und ihrer extremen Widersprüchen zu gehen, weshalb der wilde Stil- und Genremix auch einige realistische Erzählstränge enthält, die um einen vierten Protagonisten gruppiert sind, einen jungen Mann namens Hicham. Der träumt von der Immigration nach Europa, während er seinen Kleinlaster durch die Straßen Casablancas lenkt oder seinen gelähmten Vater im Waschzuber den Rücken schrubbt. Wie alle Figuren geht auch er wechselnden Erwerbstätigkeiten nach; allabendlich hackt er sich beispielsweise durchs World Wide Web, wobei er unter anderem auch Kamels Account knackt, der seine Mordaufträge via Internet erhält. Als sein teuer erkaufter „Transit“ nach Europa in den Fluten des Atlantik untergeht, weil der Flüchtlingskahn von einem Luxusdampfer überrollt wird, schwört Hicham Rache, bei der er sich der Hilfe des Killers bedienen will, was ungeahnte Folgen zeitigt. Bei aller Anverwandlungsfreude des an Einfällen und Verweisen überquellenden Films gibt es zwei auffällige Leerstellen: Michael Curtiz’ „Casablanca“ (fd 1 848), dessen mythischer Nimbus offensichtlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden soll, indem die Stadt im Wortsinne „erfahren“ wird; und – weitaus signifikanter – Louis Armstrongs titelgebende Songzeile „What a Wonderful World“, deren ironischer Brechung als Kürzel fürs chaotische Netz dennoch die Grundrichtung vorgibt. Denn krasser als in Bensaïdis Burleske lässt sich das Tohuwabohu einer nach allen Seiten auseinanderstrebenden Welt kaum visualisieren, in der virtuell und technologisch zwar jederzeit alles vernetzt werden kann, an der nächsten Bushaltestelle aber so viele Menschen vorne in das Fahrzeug hinein drängen, dass einige hinten aus der Tür gedrängt werden.
Kommentar verfassen

Kommentieren