Ein Jahr ohne Liebe

Drama | Argentinien 2005 | 97 Minuten

Regie: Anahí Berneri

Studie eines HIV-positiven homosexuellen Schriftstellers in Buenos Aires, der sich mit seiner Krankheit, ihren Symptomen und dem möglichen Tod auseinandersetzen muss, während ihn die Sehnsucht nach Leben, Sex und Liebe umtreibt und ihn schließlich in die S/M-Szene der Stadt führt. Ein nach einem autobiografischen Roman entstandener Erstlingsfilm, dessen elliptische, oft mit Groß- und Detailaufnahmen arbeitende Inszenierung dem ins Stocken geratenen Leben entspricht. Eine mutige Erkundung sexueller und emotionaler Transgressionen im Angesicht von Krankheit und Tod. (O.m.d.U.)
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
UN AÑO SIN AMOR
Produktionsland
Argentinien
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
BD Cine/Cinema Digital
Regie
Anahí Berneri
Buch
Anahí Berneri · Pablo Pérez
Kamera
Lucio Bonelli
Musik
Leo Garcia · Martín Bauer
Schnitt
Alex Zito
Darsteller
Juan Minujín (Pablo Perez) · Mimí Ardú (Tía) · Javier van den Couter (Martín) · Carlos Echevarría (Nicolás) · Bárbara Lombardo (Julia)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 18 (DVD)
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
Salzgeber (1.78:1, DD2.0 span.)
DVD kaufen

Diskussion
Eine Tablette, die sich langsam in einem Wasserglas auflöst; das Gesicht eines jungen Mannes, der durch das Fenster eines abfahrenden Autos zurückschaut; die Zahlen von Blutwerten auf einem Formular; der kleine Kuckuck, der pünktlich zur vollen Stunde aus seinem Türchen im hölzernen Uhrgehäuse herauskommt; ein Messer, das zärtlich-bedrohlich an einer Brustwarze vorbeistreicht: Microszenen aus Pablos Realität. Pablo ist 30, homosexuell, Schriftsteller und HIV-positiv. Vor nicht allzu langer Zeit von einem längeren Paris-Aufenthalt nach Buenos Aires zurückgekehrt, fühlt er sich einsam; er sehnt sich danach, der Krankheit zum Trotz intensiv zu leben, nach Sex, nach Liebe. Über Kontaktanzeigen landet er schließlich in der SM-Szene der Stadt – und trifft Martín. Dieser entspricht äußerlich seinem Bedürfnis nach einem starken, dominanten „Beschützer“; ob er aber auch bereit ist, Pablos „Jahr ohne Liebe“ zu beenden, ist fraglich. Die junge argentinische Regisseurin Anahí Berneri legte mit diesem Film nach einem autobiografischen Roman von Pablo Pérez (der zusammen mit ihr auch das Drehbuch verfasste) 2005 ihr Langfilmdebüt vor, mit dem sie im selben Jahr prompt auch den „Teddy-Award“ der „Berlinale“ errang. Tatsächlich besticht der Film dadurch, wie hier die Form den Inhalt reflektiert. In „Ein Jahr ohne Liebe“ ist der Erzählfluss wie Pablos Leben ins Stocken geraten, der Film ist geprägt von Groß- und Detailaufnahmen, irritierenden Perspektiven und harten Schnitten. In Fragmenten, Ellipsen und markanten Bildern wird ein Leben beleuchtet, das angesichts der möglicherweise tödlichen Immunschwäche allmählich äußerlich, vor allem aber innerlich aus den Fugen zu geraten scheint: Abgesehen davon, dass er sehr dünn ist, kann man Pablo zwar noch nicht viel von der Krankheit ansehen, aber seine Blutwerte machen den Ärzten Sorgen, und außerdem plagt ihn ein hartnäckiger Husten. Seine Tage sind zerrissen zwischen Krankenhausfluren, Arztzimmern und einem kleinen Apartment, das er mit seiner Tante teilt; dort versucht er einer Nachhilfeschülerin korrektes Französisch beizubringen, schweigt seine Tante beim Essen an und führt Tagebuch. Bis auf das Wenige, was er durch die Nachhilfe verdient, ist er finanziell von staatlicher Fürsorge und seinem Vater abhängig, dem auch die kleine Wohnung gehört. Nachts ist er in der Stadt unterwegs, zieht durch Diskos, Clubs und Pornokinos. Während Pablos Off-Stimme immer wieder Passagen aus seinem Tagebuch vorträgt, Vignetten seiner Gedanken- und Gefühlswelt, registriert die Kamera Momente dieses Lebens: Pablo vornüber gebeugt, mit hochgezogenem Hemd im sterilen Krankenhausflur, während eine Schwester seine Lunge abhört; Pablo in seinem Bett, hustend; Pablo auf den Knien vor Martín. Dabei ist die Perspektive auf die Figur, die die Regisseurin dem Zuschauer vermittelt, voller Spannungen: sie ist gleichzeitig freizügig und diskret, schreckt nicht vor eindeutigen, drastischen Bildern zurück, während die elliptische Erzählweise gleichzeitig jeden Voyeurismus im Keim erstickt. Die Offenheit der Tagebucheintragungen und die Einblicke in Pablos sexuelle Abenteuer stellen einerseits Intimität her, gleichzeitig bleiben Lücken, die den Zuschauer auf Distanz halten. Ähnliches bewirkt das konsequente Unterspielen des hervorragenden Hauptdarstellers Juan Minujín, das jede Rührseligkeit à la „Philadelphia“ (fd 30 662) unterbindet: Eine männliche Alice, die mit großen Augen, aber weitgehend unbewegtem Gesicht in einem schäbigen Wunderland auf die Suche nach Grenzerfahrungen geht, die Pablo sein Lebendigsein spüren lassen und ihm helfen, mit der Angst vor dem Sterben zurechtzukommen. Kein großes Melodram, sondern eine weitere argentinische „Historia minima“, die aufs Detail, auf die kleinen Dinge statt auf die großen Gesten schaut, die einen „Problemfall“ der argentinischen Gesellschaft ins Visier nimmt, ohne daraus einen tristen „Problemfilm“ zu machen und die formal wie inhaltlich spannungsvoll (und nicht selten schwarzhumorig) unterhält. Mitleid wird nicht eingefordert, sondern nur ein unvoreingenommenes Sich-Einlassen auf Pablos Erfahrungswelt. Er wird nicht als Opfer dargestellt; die Regisseurin deutet aber immer wieder an, dass die Einsamkeit, an der er leidet, auch selbstverschuldet ist, weil er zurückhaltende Zuwendungen seiner Umwelt (etwa seines Kumpels Nicolas oder seiner Tante) nie nutzt. Um seine Gefühle schriftstellerisch in seinem Tagebuch kanalisieren und zu Kunst sublimieren zu können? Letztlich ist Berneris Porträt eine vielgestaltige Odyssee: eine Erkundung sexueller und emotionaler Transgressionen, eine Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod, aber auch ein Künstler-Film.
Kommentar verfassen

Kommentieren