Die Regeln der Gewalt

- | USA 2007 | 99 Minuten

Regie: Scott Frank

Ein junger Mann leidet seit einem selbstverschuldeten Autounfall, bei dem zwei seiner Freunde ihr Leben verloren, unter Schuldgefühlen, Gedächtnisverlust und einer halbseitigen spastischen Lähmung. Als Reinigungskraft einer Bank fristet er ein tristes Dasein, bis er die Bekanntschaft eines Kleinkriminellen macht, der ihn in die Pläne zu einem Einbruch an seinem Arbeitsplatz verwickelt. Unaufgeregt und stimmig entfaltet der durchkomponierte, an Film-noir-Traditionen erinnernde Thriller seine Spannung und erweist sich mit seinen herausragenden Darstellern als bewegende Charakterstudie. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE LOOKOUT
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Miramax Films/Spyglass Ent./Birnbaum-Barber/Laurence Mark Prod./Parkes-MacDonald Prod.
Regie
Scott Frank
Buch
Scott Frank
Kamera
Alar Kivilo
Musik
James Newton Howard
Schnitt
Jill Savitt
Darsteller
Joseph Gordon-Levitt (Chris Pratt) · Jeff Daniels (Lewis) · Matthew Goode (Gary Spargo) · Isla Fisher (Luvlee) · Bruce McGill (Robert Pratt)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Miramax (1:2,40/16:9/Deutsch DD 5.1/Engl.)
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Diskussion
Chris Pratt leidet unter Gedächtnisverlust. Orientierungslos erwacht er jeden Morgen und versucht, seinen eintönigen Alltag mittels Routine, überall verteilten Gedächtnisstützen und einem Notizblock zu bewältigen – ein Leben im permanenten Dämmerzustand, das ihn wie Leonard Shelby in „Memento“ (fd 35173) für Manipulationen seiner Außenwelt empfänglich macht. Doch „Die Regeln der Gewalt“ erhebt sich nicht in die ästhetisierten Höhen von Christopher Nolans verschachtelter Parabel über die Subjektivität von Erinnerungen und deren tödliche Folgen. Genauso wenig handelt es sich um eine vom reißerischen Titel suggerierte Abhandlung über die Verkettung von Gewaltausbrüchen. „The Lookout“, der Späher, so der aussagekräftigere Originaltitel, entwickelt in ruhiger, linearer Erzählweise die tragische Geschichte eines jungen Mannes, der durch einen selbstverschuldeten Unfall vom Siegerpodest seines jugendlichen Erfolgs in die deprimierenden Niederungen der Unselbstständigkeit stürzt; es geht um das Gefühl des Machtverlusts, um das vom Schicksal schlagartig geraubte Lebensglück, das sich sein ehemaliger Besitzer nun wieder zurückerobern will. Schon die erste Sequenz, in der der beliebte High-School-Star Chris übermütig die Scheinwerfer seines unter einem Schwarm Glühwürmchen dahinrasenden Autos abstellt, verdeutlicht, dass hier auch die Bewältigung von Schuld und Sühne verhandelt wird: Das befreundete Pärchen auf dem Rücksitz wird den darauf folgenden Zusammenprall mit einem Mähdrescher nicht überleben, seine Freundin Kelly wird ein Bein verlieren, Chris selbst Zeit seines Lebens unter Gedächtnisverlust, emotionalen Störungen und einer halbseitigen spastischen Lähmung leiden. Vier Jahre später versucht er, seinen Tagesablauf in einem Selbsthilfe-Seminar zusammenzufassen: Der Wecker klingelt, ich stelle ihn ab, dann nehme ich eine Dusche, mit Seife, manchmal weine ich – doch diese persönliche Anmerkung wird er genauso ausradieren, wie er den Unfallhergang aus seinem Gedächtnis verbannt hat. Chris ist einsam, sexuell frustriert und vom wohlhabenden Elternhaus in ein Dasein in Unmündigkeit verbannt. Als einziger Freund ist ihm sein blinder Mitbewohner und Mentor Lewis geblieben, der seiner mit Unsicherheit reagierenden Umwelt scharfzüngig die Maske seines sarkastischen Humors entgegensetzt. Abends fängt die Kamera von der Straße aus einen im hell erleuchteten, verglasten Innenraum der kleinen Noel State Bank exponierten Chris ein, der dort seinem Job als Reinigungskraft nachgeht. Ein Papierkorb, ein Schrubber und einige Seifenbriketts evozieren die Erinnerung an das entscheidende Eishockey-Spiel zu Beginn seiner Sportler-Karriere – kontrast- und schmerzreicher könnte das vom Fan-Geschrei angestachelte Triumph- und Glücksgefühl nicht in sein gegenwärtiges Lebensgefühl einbrechen. Am selben Abend wird er Gary Spargo kennen lernen, der schon bald die Begegnung mit der ehemaligen Bar-Tänzerin Luvlee in die Wege leitet, die Chris’ Verlangen nach Zuneigung endlich erwidert. Einer Spinne gleich gelingt es Gary, sein wehrloses Opfer in ein einlullendes Netz aus emotionaler Abhängigkeit und Versprechungen zu ziehen und solange aufzustacheln, bis es in den geplanten nächtlichen Überfall auf seinen Arbeitsplatz einwilligt. Als der Bankdirektor Chris am Abend des Einbruchs die lang ersehnte Beförderung zum Schalterbeamten in Aussicht stellt, scheint dieser den sich überstürzenden Ereignissen keinen Einhalt mehr gebieten zu können. Dass Regiedebütant Scott Frank immer noch tief in seiner vorherigen Domäne, der Drehbuchentwicklung („Out of Sight“, fd 33323, „Schnappt Shorty“, fd 31818), verwurzelt ist, merkt man dem konsequent durchkomponierten Thriller vor allem an der fein ziselierten Ausarbeitung seines Charaktertrios an. Herausragend ist die Darstellung des melancholisch-vereinsamten Antihelden – Joseph Gordon-Levitt mit traurig-verwirrten Augen als das seiner Talente beraubte Gegenstück zu dem ebenfalls von Frank geschriebenen „Wunderkind Tate“ (fd 29356); neben ihm sorgen Jeff Daniels als blinder Überlebenskünstler Lewis und Matthew Goode als faszinierend-zwiespältiger Kleinkrimineller Gary dafür, dass Chris’ Schwanken zwischen Gut und Böse, zwischen anstrengender Schuldaufarbeitung und verführerischem Ausbruchs- bzw. Einbruchsversuch genauso fesselnd wie glaubwürdig erscheint. Überwiegend in Nachtszenen entfaltet der an Film-Noir-Traditionen erinnernde Thriller langsam seine düsteren Geheimnisse, die im von Schatten und Leerräumen durchzogenen Set der Provinzbank albtraumhafte Qualitäten entwickeln und tagsüber im gleißenden Licht der schneebedeckten Landschaften von Kansas durch Chris’ Erinnerungsvermögen ihrer Auflösung harren. Dabei gelingt es Scott Frank, aus dem Spannungsfeld zwischen unvermittelt auftauchenden Erinnerungsfetzen und immer wieder neu zu verhandelnden Zukunftsperspektiven eine unaufgeregte Allegorie auf das Puzzle menschlicher Vergangenheitsbewältigung zu inszenieren, die sich als ausgefeilte und bewegende Charakterstudie ins Gedächtnis einbrennt.
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