Eggesin möglicherweise

Dokumentarfilm | Deutschland 2005 | 84 Minuten

Regie: Olaf Winkler

Dokumentarfilm über die ehemalige DDR-Garnisonsstadt Eggesin, die nach der Wende als Bundeswehrstandort nicht mehr gebraucht wurde und nun aufgrund mangelnder Alternativen mit massiven Abwanderungen zu kämpfen hat. Aus dem Einzelfall und zahllosen Beobachtungen vor Ort, aus Aussagen von Politikern wie Bewohnern entwickelt sich eine kunstvolle, abstrakte Komposition, die zum einen die konkrete zusammenbrechende städtische Welt erfahrbar macht, zum anderen das Phänomen als übergreifend darstellt. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
filmkombinat nordost
Regie
Olaf Winkler
Buch
Olaf Winkler
Kamera
Dirk Heth
Schnitt
Dirk Heth
Länge
84 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb

Diskussion
Wahrscheinlich wollte Rudolf Scharping gelobt werden, als er einräumte, dass nach der Wende eigentlich mehr als 100 Bundeswehrstandorte geschlossen werden sollten und es tatsächlich nur etwa 40 wurden. Was für den Politiker eine Statistik war, bedeutete für manche betroffene Garnisonsstadt den Untergang. So auch für Eggesin, das einst 27.000 NVA-Soldaten plus Zivilbediensteten eine Heimat bot und nach dem Abzug der Militärs vor dem Nichts steht. Ein zweites Standbein fehlte, die Planwirtschaft baute auf Monokultur. Das alles wussten die Filmemacher nach eigenem Bekunden nicht, bevor sie den Auftrag zum Film erhielten. Der Ich-Erzähler, aus dessen Perspektive diese dokumentarische Erzählung geschildert wird, begab sich also mit unverstelltem Blick in jene nordostdeutsche Region, wo es außer Landschaft nichts gibt, keine Industrie, keine Infrastruktur, keine Nähe zu interessanteren Orten, „nicht mal einen Grenzübergang zu Polen“, wie ein Marketing-Experte der Stadtverwaltung vorbetet. Die Menschen ziehen weg, Eggesin wird wieder ein Dorf wie vor der Gründung der DDR, so scheint es. Aber Eggesin gibt nicht auf. Scharpings Diktum zieht sich leitmotivisch durch den Film, so wie zahlreiche weitere Statements, Analysen des Experten, ein lapidar-hochmütiger Satz von Ex-Kanzler Kohl, vor allem Aussagen von Eggesinern selbst, die sich ihrer ernsten Lage bewusst sind. Bilder, die sich schon beim ersten Sehen einprägen, tauchen immer wieder auf: Bagger, die allerorten, vor allem in der Kaserne, Mauern einreißen, ein Spielplatz, auf dem ein einziges Kind spielt, ein leer stehendes Hotel. Nach und nach wird aus der Collage eine Komposition, die sich zu einem Hauptthema verdichtet: Eggesin sei wie ein Tanz, sagt eine Bewohnerin, die neuerdings älteren Herrschaften das Tanzen beibringt – sie hat umgesattelt, wie so viele junge und alte Eggesiner. Es ist ein Tanz, den alle mittanzen, denn in Eggesin häufen sich die Feste, die Freizeitaktivitäten, die Versuche, der Einöde aus eigener Kraft zu entrinnen. Auf einem Volksfest präsentieren sich Kleingruppen von der Eggesiner Märchentruhe bis zur örtlichen Motorradgang, die nicht minder einer vergangenen Zeit entstammt. Das alles erinnert an jene vielfach dokumentierten Totentänze, die mittelalterliche Städte aufführten, kurz bevor die Pest eintraf. Sind also all die Bemühungen der Stadt nur Augenwischerei, den Untergang hinauszögernd, nicht aber aufhaltend? Vielleicht nicht, denn die Stadtverwaltung hat sich am Wettbewerb zur Stadtentwicklung Ost beteiligt, den es gibt, weil das Problem der Entvölkerung erkannt worden ist. Auch das zeigt der Film. Die Filmemacher, die in der ehemaligen DDR groß wurden, zeigen von Anfang an keinen sachlich-dokumentarischen Ansatz; um aus dem Einzelfall ein Fallbeispiel zu machen, trennen sie mehr und mehr die Bild- und Tonebene voneinander, unterlegen Gespräche und Beobachtungen mit flächiger Musik und ordnen die Elemente neu. Aus dieser kunstvollen Abstraktion entsteht ein eigener Blick auf das Phänomen, der zu mancherlei Gedanken anregt: dass ganze Regionen in Deutschland sich selbst überlassen werden, dass eine Gesellschaft in sich zusammenbricht, wenn sie nicht von außen befruchtet wird, dass dieses Land nicht nur am Hindukusch verteidigt werden muss, sondern auch in Eggesin.
Kommentar verfassen

Kommentieren