Die Regenschirme von Cherbourg

Liebesfilm | Frankreich/BR Deutschland 1963 | 91 Minuten

Regie: Jacques Demy

Die melancholische Liebesgeschichte zwischen der 17jährigen Tochter einer Ladeninhaberin in Cherbourg und einem jungen Autoschlosser, der in den Algerienkrieg muß. Nach seiner Rückkehr hat sie einen anderen geheiratet, und auch er findet eine ihn liebende Frau, doch beide leiden an der vertanen Chance einer großen Liebe. Jacques Demy verdichtet die anspruchslose Alltagsgeschichte zu einem lyrischen Kammerspiel, in dem alle Dialoge gesungen werden. Musik und Melodien, stilisierte Farben, Formen und Bewegungen verbinden sich zu einem höchst artifiziellen Film, der auf zärtliche Weise die Gefühle der Figuren versinnbildlicht. Preis der OCIC in Cannes 1964. (O.m.d.U.; 1992 stellte Demys Frau Agnès Varda eine farb- und tontechnisch optimal überarbeitete neue Kopie des Films her.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LES PARAPLUIES DE CHERBOURG
Produktionsland
Frankreich/BR Deutschland
Produktionsjahr
1963
Produktionsfirma
Parc/Madeleine/Beta
Regie
Jacques Demy
Buch
Jacques Demy
Kamera
Jean Rabier
Musik
Michel Legrand
Schnitt
Anne-Marie Cotret
Darsteller
Catherine Deneuve (Geneviève Emery) · Nino Castelnuovo (Guy Foucher) · Anne Vernon (Madame Emery) · Marc Michel (Roland Cassard) · Ellen Farmer (Madeleine)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Liebesfilm | Musikfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Der kleine Jacquot sitzt im Kasperle-Theater und will nicht wahrhaben, daß die Vorstellung zu Ende ist. Gebannt blickt er zur Bühne hinauf und sagt: "Es ist nicht zu Ende, der Vorhang geht manchmal wieder auf. Ich warte!" Mit dieser kleinen, ebenso poetischen wie symbolischen Szene umschrieb Agnes Varda in "Jacquot" (fd 29 547) eine der frühen Leidenschaften ihres späteren Mannes Jacques Demy, der 1990 59jährig starb und ein hierzulande bis heute kaum entdecktes filmisches Werk hinterließ. Auch für Agnés Varda ist mit Demys Tod nicht alles zu Ende gewesen, und auf bewegende Weise läßt sie seitdem ab und an den Vorhang noch einmal hoch, um einen Blick auf die (filmische) Bühne Demys zu werfen. Das hat in seiner zärtlichen Beharrlichkeit nie etwas Aufdringliches, im Gegenteil: "Jacquot" ist nicht nur beredtes Zeugnis einer großen Liebe, sondern auch der Bereitschaft, Demys Ansichten von Leben und Kino zu analysieren und zugleich zu vermitteln. Mit ähnlichen Gedanken kehrte Agnès Varda 1992 für ihren Film "Les demoiselles ont eu 25 ans" nach Rochefort zurück, um sich auf die Spuren von Demys "Die Mädchen von Rochefort" (fd 16 911) zu begeben; und im selben Jahr brachte sie Demys international erfolgreichsten Film "Die Regenschirme von Cherbourg" wieder in die Kinos - in neuen Kopien, deren (Eastman-)Farben leuchten wie am ersten Tag, klanglich "erweitert" um Dolby-Stereo-Ton.

Auch hier hebt sich zu Beginn eine Art Vorhang: aus einer sich öffnenden Irisblende wird der Blick auf den Hafen von Cherbourg freigegeben, danach schwenkt die Kamera und blickt gleich einem Senklot aus extremer Aufsicht nach unten auf das graue Kopfsteinpflaster der Uferbefestigung. Es beginnt zu regnen. Menschen hasten vorüber, wobei zumeist nur die aufgespannten Regenschirme zu erkennen sind: fröhliche Farbtupfer, die sich mal geplant, mal scheinbar zufällig zu einem poetischen Arrangement verbinden und sich wieder auflösen. Die Künstlichkeit dieser zauberhaften Eröffnung ist Programm, sinnbildhafte Verdichtung für das Kommende als eine "poetische Versuchsanordnung" über die Liebe, ihre Unwägbarkeiten und Enttäuschungen. Über den "Tanz" der Regenschirme läuft der Vorspann, danach schwenkt die Kamera zurück auf das Hafenpanorama. Eine erste von mehreren Einblendungen, die das Geschehen kapitelartig segmentieren, verkündet "Teil l: Die Abreise - November 1957". Was einsetzt, ist ein filmisches "Singspiel", das seinerzeit die Zuschauer erheiterte und zugleich verunsicherte, und auch heute noch wird man seinen intuitiven inneren Widerstand gegen die durchgehend gesungenen Alltagsdialoge ablegen müssen, um dem Film in seiner Besonderheit nahezukommen.

Der 20jährige Automechaniker Guy liebt Geneviève, die 17jährige Tochter einer standesstolzen Inhaberin eines Geschäfts für Regenschirme. Die beiden besingen ihre Liebe, planen ihre gemeinsame Zukunft und sind von der Unzerstörbarkeit ihres Glücks überzeugt. Als Guy erfährt, daß er zum zweijährigen Militärdienst eingezogen wird, trösten sie sich in ihrer ersten und einzigen Liebesnacht, um danach tränenreich Abschied zu nehmen. Bald muß Geneviève ihrer Mutter gestehen, daß sie schwanger ist, und zugleich feststellen, daß Guys Bild in ihrer Erinnerung immer blasser wird. Da seine Briefe aus Algerien nur selten eintreffen und zudem eher von seinen Eindrücken vor Ort handeln, schwankt sie in ihrer Liebe und läßt sich schließlich von der Mutter zu einer "besseren Partie" überreden: zur Hochzeit mit dem Diamantenhändler Roland Cassard. Als Guy nach Cherbourg zurückkehrt, ist Geneviève fortgezogen; nur mühsam findet er Halt und Trost und heiratet Madeleine, eine junge Frau, die aufopferungsvoll seine kranke Tante pflegte. Im Dezember 1963, kurz vor Weihnachten, sehen sich Guy und Genvieve für einen kurzen Moment wieder - und haben sich nichts zu sagen.

Dieses bittersüße Liebesdrama ohne Happy End ist im Kem ebenso schlicht wie trivial und gewinnt "Wahrhaftigkeit" erst durch seine außergewöhnliche inszenatorische und musikalische Verdichtung. Wie das Arrangement der Regenschirmdächer in der Vorspannsequenz entwickelt Demy strenge Konstruktionsprinzipien, die vorgegeben sind durch Räume, Dekor und vor allem Farben, denen sich die Menschen zumeist anpassen und in die sie sich eingliedern. Die scheinbar grenzenlose Liebe des jungen Paares findet so schon früh ihre sinnbildlichen Grenzen, vor allem Geneviève ist gefangen wie ein Vogel in einem bunten Käfig purpurroter oder babyblauer Tapeten, ein Kind ihrer Umwelt, das gar nicht fähig ist, die "Revolution" einer alles niederreißenden Liebe durchzustehen. In diesem Konstrukt sind es Momente der Zufälle und verpaßten Begegnungen, die in ihrer Unwägbarkeit fast schon tragische Dimensionen annehmen. Die kaum merklichen Verschiebungen in den Gefühlen spiegeln sich dabei traumwandlerisch sicher in der musikalischen Vorgabe Michel Legrands: virtuos wechseln die rezitativähnlich gesungenen Dialogpassagen mit Versatzstücken aus Swing und Jazz sowie den sehr melodischen Liedern, deren zentrale Motive jeweils den Personen zugeordnet sind und die im Verlauf der Ereignisse chromatisch variiert werden, sich beziehungsreich überkreuzen und die emotionale Fallhöhe bestimmen. In der Summe entsteht ein homogener, ungemein dichter filmischer Klang- und Farbenteppich, wobei sich Gefühle, Gedanken und Erinnerungen vielfältig miteinander verweben. (Dies im übrigen auch über den Film hinaus mit dem übrigen Werk Demy s: Roland Cassards knapp-prägnante Erzählung von seiner unglücklichen Liebe zu einem Mädchen namens Lola ist beispielweise eine Verbindungslinie zu Demys "Lola, das Mädchen aus dem Hafen", fd 10 425, eingebunden als "natürlicher" Reflex auf den eigenen erzählerischen Kosmos.) Mit sanfter Ironie, vor allem aber großer Wärme und viel Zuneigung zu allen Figuren des film-musikalischen Reigens entwickelt Demy seine Poetik der Liebe und ihrer Anfälligkeit, wobei zum Schluß auch ein Funke Wehmut darüber bleibt, daß die ganz große Liebe vielleicht nur eine Illusion sein könnte. "Bist du glücklich?", fragt Geneviève, als sie Guy noch einmal im (Kunst-)Schnee unmittelbar vor Weihnachten wiedertrifft. "Ja, sehr," antwortet er ihr ernst. Man weiß, daß er nicht lügt und mit seinem jetzigen Leben und seiner kleinen Familie zufieden ist, und doch bleibt ein leicht irritierendes Nachklingen: es könnte auch die perfekte (Lebens-)Lüge sein.
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