Mein Bruder ist ein Einzelkind

- | Italien/Frankreich 2007 | 100 Minuten

Regie: Daniele Luchetti

Italien in den 1960er- und 1970er-Jahren: Ein Teenager, das "schwarze Schaf" einer Arbeiterfamilie, reibt sich an seinem sozialistisch eingestellten älteren Bruder und verliebt sich in dessen Freundin. Durch seinen Eintritt in eine faschistische Gruppe verschärft sich der Konflikt; im Laufe der Zeit revidiert der junge Mann indes seine politischen Ansichten. Der Kontakt zwischen den Brüdern bricht dabei nie ganz ab, bis der Ältere ins Fahrwasser der "brigade rosse" gerät. Eindrücklicher Coming-of-Age-Film mit einem brillanten Hauptdarsteller. Virtuos verbindet die Geschichte der Brüder mit dem Rückblick auf politisch-gesellschaftliche Entwicklungen. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MIO FRATELLO È FIGLIO UNICO
Produktionsland
Italien/Frankreich
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Cattleya/Babe Film
Regie
Daniele Luchetti
Buch
Daniele Luchetti · Sandro Petraglia · Stefano Rulli
Kamera
Claudio Collepiccolo
Musik
Franco Piersanti
Schnitt
Mirco Garrone
Darsteller
Elio Germano (Accio Benassi) · Riccardo Scamarcio (Manrico Benassi) · Angela Finocchiaro (Amelia Benassi) · Massimo Poplizio (Ettore Benassi) · Alba Rohrwacher (Violetta Benassi)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
Kool (16:9, 1.85:1, DD5.1 ital./dt.)
DVD kaufen

Diskussion
Daniele Luchettis Film über einen rebellischen Jungen, der als Sohn einer Arbeiterfamilie im Italien der 1960er- und 1970er-Jahre nach seinem Platz im Leben sucht und sich dabei an seinem älteren Bruder und diversen Ideologien reibt, weckt nicht zuletzt durch die Namen seiner Drehbuchautoren Neugier. Sandro Petraglia und Stefano Rulli haben es in ihren Arbeiten, ob alleine oder als Team, immer wieder hervorragend verstanden, das Politische und das Private zu verbinden, gesellschaftliche Probleme und Entwicklungen im Lebensschicksal ebenso glaubwürdiger wie berührender Figuren zu spiegeln. Neben ihren von Gianni Amelio realisierten Arbeiten („Gestohlene Kinder“, fd 29 905; „Le Chiavi di Casa – Die Hausschlüssel“, fd 37 493) hat dabei vor allem Marco Tullio Giordanos nach ihrer Vorlage inszenierter Film „Die besten Jahre“ (fd 36 955) Aufsehen erregt. Der Stoff von „Mein Bruder ist ein Einzelkind“ erinnert stark an diesen preisgekrönten Erfolg aus dem Jahr 2003; die Umsetzung ist jedoch so leidenschaftlich, dass der Verdacht, die beiden würden nur ihr Erfolgsrezept variieren, bereits im Keim erstickt wird. Vor allem die dramaturgischen Akzente sind anders gesetzt: Während „Die besten Jahre“ mit insgesamt sechs Stunden Laufzeit in zwei Teilen ein episches gesellschaftliches Panorama entwirft, ist „Mein Bruder ist ein Einzelkind“ eine stark verdichtete Coming-of-Age-Geschichte. Der paradoxe Titel bezieht sich auf einen Jungen mit dem nicht gerade sehr schmeichelhaften Spitznamen Accio, „das Ekel“, der sich auf Teufel-komm-raus nicht in den kleinen Kosmos seiner Familie einfügen will und sich dort, gerade neben seinem beliebten großen Bruder, wie ein Fremder fühlt. Während Eltern und Geschwister in Latina, einer von Mussolini aus dem Boden gestampften und nun bereits trist vor sich hinbröckelnden Trabantenstadt nahe Rom, ganz in ihrer Arbeiter-Identität aufgehen, ist Accio ein Raufbold und renitenter Rebell, der nach alternativen Lebensmodellen sucht. Als ihm der Katholizismus, den er in einer Klosterschule „ausprobiert“, nicht den erhofften Halt bietet, kommt ein älterer Nachbar gerade recht, der ihn in eine neofaschistische Gruppierung einführt. Accio schlägt, indem er sich dieser Gruppe anschließt, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Einerseits findet er hier die klaren Regeln und die Ersatzfamilie, nach denen er gesucht hat, andererseits ist seine Neigung zu den Schwarzhemden die größtmögliche Provokation, um Vater, Mutter, Schwester und vor allem seinen Bruder Manrico in den Wahnsinn zu treiben. Dieser wiederum, gutaussehend und gewandt, ist ein überzeugter Linker und der Wortführer der Fabrikarbeiter, die verstärkt für ihre Rechte gegen die Unternehmer eintreten – und er hat eine zauberhafte, ebenfalls politisch linke Freundin namens Francesca, die auch Accio gefällt. Letztlich ist es aber wohl mehr Accios unabhängiger Geist als diese Neigung, der ihn dazu bringt, sich im Laufe der Zeit von den Faschisten abzuwenden; als es gilt, seinen Bruder vor einem Anschlag zu warnen, kommt es zum Bruch mit der Bewegung. Manrico wiederum gerät im Lauf der Jahre verstärkt ins Fahrwasser der „brigade rosse“, die beim Durchsetzen sozialistischer Ideale auch Gewalt als Agitationsmittel nicht ausschließen. Passend im Umkreis des sich jährenden Mai 1968 in die deutschen Kinos gebracht, ist „Mein Bruder ist ein Einzelkind“ nach Filmen wie „100 Schritte“ (fd 36 116), „Buongiorno notte – Der Fall Aldo Moro“ (fd 38 192) und eben „Die besten Jahre“ eine weitere beeindruckende italienische Aufarbeitung der bewegten Zeit der 1960er- und 1970er-Jahre, über das begründete Verlangen nach Revolte, nach Veränderung, und dessen blutiges Scheitern. Ein beträchtliches Kapital des Films ist sein exquisites Schauspieler-Ensemble, allen voran der herausragende Hauptdarsteller Elio Germano, der mit seinen gerade 18 Jahren die Entwicklungen, die seine Figur im Laufe der Handlung durchmacht, und das Changieren zwischen teils humorvollen Episoden im Leben des Heranwachsenden, dessen grimmigem Sinnsuchen und schmerzvollen Erfahrungen nuanciert meistert: Zunächst ganz Aggression, Akne und Widerspruchsgeist, entfaltet er schnell leisere Töne, mischt sich versteckte Schüchternheit in Accios Dreistigkeit und äußert sich die wache Intelligenz mehr in Nachdenklichkeit denn in Provokation. Drehbuch und Regie halten dabei wunderbar leichtfüßig die Balance zwischen dem Entwerfen eines detailreichen, lebendigen Zeit- und Milieubilds in der Tradition des Neorealismus und der eindringlichen Ausarbeitung der von Anziehung und Abstoßung geprägten Beziehung der ungleichen Brüder, die nicht zum bloßen „Modell“ der politischen Konstellationen funktionalisiert wird, sondern eine Dynamik entwickelt, die einen bis zum Schluss gefangen nimmt.
Kommentar verfassen

Kommentieren