Drama | Frankreich/USA/Mexiko/Belgien 2008 | 144 Minuten

Regie: Erick Zonca

Eine Alkoholikerin entführt ein Kind, um von dessen Großvater Geld zu erpressen und damit ihr miserables Leben in bessere Bahnen zu lenken. Ihr Plan erweist sich als höchst dürftig und mündet in eine turbulente Flucht, die in Mexiko in einer weiteren Entführung des Kindes gipfelt. Ein nicht immer ganz logischer Mix aus Alkoholiker-Drama, Road Movie und Entführungsthriller um eine ebenso provozierende wie faszinierende Frauenfigur, die von der furios aufspielenden Hauptdarstellerin mit vibrierender Energie ausgestattet wird. Überzeugend ist der Film vor allem als Charakterstudie, deren innere, durch die Entwicklung der Hauptfigur erzeugte Spannung die äußere Action in den Schatten stellt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JULIA
Produktionsland
Frankreich/USA/Mexiko/Belgien
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Les Productions Bagheera/Le Bureau/The 7th Floor/Jaibol Films/France 3 Cinéma
Regie
Erick Zonca
Buch
Erick Zonca · Aude Py
Kamera
Yorick Le Saux
Schnitt
Philippe Kotlarski
Darsteller
Tilda Swinton (Julia) · Saul Rubinek (Mitch) · Kate del Castillo (Elena) · Aidan Gould (Tom) · Jude Ciccolella (Nick)
Länge
144 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Road Movie | Thriller
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein kommentiertes Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
Kinowelt (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Es ist sehr passend, dass der Name der Hauptfigur auch als Titel von Erik Zoncas Film fungiert; dieser fesselt nämlich vor allem dank dieser kaputten, verführerischen Frauensperson namens Julia, die Tilda Swinton furios verkörpert: Wie eine schlingernde, in ihrer heruntergekommenen Schönheit immer noch majestätische Fregatte manövriert sie halt- und rücksichtslos, vor nervösem Überdruck vibrierend, durch die nicht immer logischen Wellengänge eines Plots, der zwischen Alkoholiker-Drama, Road-Movie und Entführungs-Thriller laviert. Eingeführt wird Julia nachts in einer Bar, beim Männer-Aufreißen: Eine schillernde, ordinäre, nicht mehr taufrische Diva, die auf schwindelerregenden Highheels einher stakst wie ein Paradiesvogel, der tief im Dreck gelandet ist. Und diesen Dreck offenbart der nächste, gnadenlos grelle Morgen, der auf Julias Party-, Sauf- und Sex-Nacht folgt: Julia ist Alkoholikerin, und dass ihr Leben bis dahin halbwegs funktionierte, verdankte sie wohl ihrem Charme, den sie bei Bedarf aktivieren kann, um diverse Leute zu Gefälligkeiten zu überreden, und einem treuen Liebhaber, der die ramponierte Immernoch-Schöne nur zu gerne retten würde. Damit ist jetzt aber Schluss. Als Julia ihren Job verliert und nicht mehr weiter weiß, bringt der alte Freund sie dazu, sich bei den Anonymen Alkoholikern blicken zu lassen. Dort lernt sie Elena kennen. Angeblich hat deren Schwiegervater, ein Millionär, einst ihren kleinen Sohn „geraubt“ und zieht ihn nun bei sich groß, ohne dass die Mutter ihn treffen darf. Julia soll ihr helfen, das Kind zu „befreien“. Diese lässt sich scheinbar darauf ein, plant aber in Wirklichkeit, den Neunjährigen in eigener Regie zu entführen und vom Großvater mehere Millionen Dollar zu erpressen. Doch kaum liegt der Junge verschnürt im Kofferraum von Julias Auto, geht alles schief, was nur schief gehen kann. Eine nervlich und körperlich aufreibende Flucht beginnt, von der die Entführerin kaum weniger überfordert ist als der Entführte. Dabei verhält sich Julia zunächst äußerst brutal gegenüber ihrem kleinen Opfer; im Laufe der Reise ändert sich indes ihre Haltung: Mit der Entführung hat Julia auch die Verantwortung für das Kind übernommen und sich damit unwillentlich in eine Situation begeben, in der ihre Selbstbezogenheit nach und nach bröckelt. Dann jedoch landen die beiden in Mexiko, und der Junge gerät in die Hände einheimischer Kidnapper. Diese fordern nun ihrerseits von Julia, die sie für die Mutter halten, ein Lösegeld. Ähnlich wie in „Liebe das Leben“ (fd 33 380), seinem Debütfilm um die komplizierte Freundschaft zweier junger Frauen, die zwischen Freiheitsdrang und der Suche nach Geborgenheit, zwischen Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung schwanken, geht es in Zoncas neuem Film um eine Frauenfigur, deren Verhalten nicht unbedingt zu Identifikation und Sympathie einlädt, aber die einen trotzdem in ihren Bann schlägt. Julia, die in ihrer Sucht so abgestumpft ist, dass ihr jedes Mitgefühl abhanden gekommen ist, mag den entführten Jungen mit einer Unmenschlichkeit behandeln, die an körperliche und vor allem seelische Folter grenzt: trotzdem kann man kaum umhin, der Frau, die sich mit solch verbissener, verzweifelter Energie aus ihrer Lebensmisere herauskämpfen will, auch Mitgefühl zu zollen. Wie im Falle der beiden Protagonistinnen in „Liebe das Leben“ führen die Dominanz und der große Entwicklungsspielraum dieser Figur zwar dazu, dass die meisten Nebenfiguren zu kurz kommen – so verschwindet beispielsweise Elena recht unmotiviert aus der Handlung, nachdem sie dramaturgisch als Movens der Entführung ausgedient hat; die mexikanischen Kidnapper sind bloße Genre-Klischees. Aber das stört nicht allzu sehr, da immerhin der Junge einen starken Gegenpart abgibt, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner stillen Art, die Julia, der chronischen Lügnerin, eine seltsame kindliche Reife und Wahrhaftigkeit entgegensetzt. Der ans Road Movie angelehnte Mittelteil, der die Flucht der beiden zeigt, ihre sich zögerlich zwischen Furcht, Überforderung und erzwungener Nähe entwickelnde Beziehung beleuchtet und in einer großartigen Sequenz in der Wüste nahe der mexikanischen Grenze gipfelt, ist denn auch das Glanzstück des Films und großes Genrekino: Ein Zwei-Personen-Kammerspiel in dürrer, sonnenversengter Weite, die gleichsam wie ein Fegefeuer durchschritten werden muss. Hinterher sitzt Julia zwar nicht weniger im Dreck als vorher, gerät vielmehr noch tiefer in die Misere – die Perspektive der egozentrischen Trinkerin hat sich aber geöffnet.
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