Rückkehr in die Normandie - Retour en Normandie

Dokumentarfilm | Frankreich 2006 | 112 Minuten

Regie: Nicolas Philibert

Nicolas Philibert kehrt in die Normandie zurück, wo er im Jahr 1976 an dem Film "Ich, Pierre Rivière, der ich meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder getötet habe" von René Allio mitarbeitete. Dieser mit Laiendarstellern besetzte Film basierte auf einem Mordfall aus den 1830er-Jahren und setzte der konventionellen Geschichtsdarstellung eine emanzipatorische, vom Kollektiv getragene Repräsentation von Geschichte entgegen. Eine ebenso spannende wie erhellende Dokumentation, die Hommage an das utopische Projekt sowie dessen liebevolle "Nachlese" ist und aufmerksam den Lebensläufen der damaligen Darsteller nachspürt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
RETOUR EN NORMANDIE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Les Films d'Ici/Maïa Films/Arte France Normandie
Regie
Nicolas Philibert
Buch
Nicolas Philibert
Kamera
Katell Djian
Schnitt
Nicolas Philibert · Thaddée Bertrand
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Im Jahr 1973 veröffentlichte der Philosoph Michel Foucault gemeinsam mit sieben Mitarbeitern ein erstaunliches Dossier. „Der Fall Rivière“ (dt. 1975) bot auf, was die Archive über einen 140 Jahre zurückliegenden Mordfall in der Normandie hergaben. Der Bauer Pierre Rivière hatte 1836 seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder ermordet, nach seiner Verhaftung ein umfangreiches schriftliches Geständnis abgelegt, indem er die Beweggründe seiner Tat darlegte. Rivière war zum Gegenstand der „Psy“-Wissenschaften geworden, wurde zum Tode verurteilt, begnadigt und beging später im Gefängnis Selbstmord. Die Veröffentlichung des Dossiers war von Foucault seinerzeit als Provokation der mit der Psyche des Menschen befassten Wissenschaften gemeint gewesen, verhallte aber weitgehend ungehört. Als sich 1975/76 René Allio des Stoffs annahm („Ich, Pierre Rivière, der ich meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder getötet habe“), ging es ihm um etwas anderes, das Foucault in einem Interview in den „cahiers du cinéma“ (Nov. 1976) so umschrieb: „Literatur über Bauern gibt es viel; aber eine bäuerliche Literatur, eine bäuerliche Ausdrucksweise, da gibt es nicht viel.“ René Allio und sein Team, wozu neben Regieassistent Nicolas Philibert die Drehbuchautoren Pascal Bonitzer, Jean Jourdheuil und Serge Toubiana gehörten, entschieden sich dafür, ihren Film an den Originalschauplätzen unter Einbezug von bäuerlichen Laiendarstellern aus der Region zu drehen und – so Foucault – „eine Geschichte in der Gegenwart über Leute zu machen, die bisher niemals das Wort hatten“. Vor diesem Hintergrund wird ein weiterer Aspekt deutlich, den der „Fall Rivière“ in sich trägt, den aber nach Foucaults Auffassung erst Allios Film profiliert hat: „Uns und unseren Gegenstücken aus jener Zeit genügte, um Intellektuelle zu werden, eine kleine Entscheidung, der Griff zu Papier und Feder. Er dagegen muss zu einer Sense greifen, um das Recht zu haben zu schreiben, um eine Geschichte zu erzählen zu haben, um aus dem Gewöhnlichen herauszutreten.“ Die Laiendarsteller in Allios Film vervielfachen diese „rituelle Geste“ (Foucault), wenn sie nun ihrerseits das Wort ergreifen, sich selbst in Rivière erkennen und seine Geschichte, die von der ihren nicht allzu weit entfernt ist, nachspielen. In den Debatten der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich mit der politischen Frage nach einer möglichen emanzipatorischen filmischen Re-Präsentation von Geschichte auseinander setzten, galt „Ich, Pierre Rivière ...“ seither als gelungenes, ja, kanonisches Vorbild, blieb aber hierzulande, von einigen Festivalaufführungen abgesehen, weitgehend unsichtbar. Dass damals tatsächlich gelang, wovon man schwärmte, dass nämlich Geschichte in einem dreifachen Erfahrungsaustausch zwischen einheimischen Schauspielern, Filmemachern und einem authentischen Text geschaffen wurde, belegt nicht zuletzt Nicolas Philiberts „Rückkehr in die Normandie“. 30 Jahre nach Abschluss der Dreharbeiten von „Ich, Pierre Rivière ...“ kehrt der damalige Regieassistent, mittlerweile selbst berühmt für seinen Erfolgsfilm „Sein und Haben“ (fd 35 751), an den Drehort zurück, besucht die alten Schauplätze, erzählt von den damaligen Produktionsbedingungen, sucht nach den damaligen (Laien-)Darstellern, zeigt einige Ausschnitte aus Allios altem Film, macht Interviews, liest aus Tagebüchern, Produktionsnotizen und Briefwechseln und erzählt von seinen eigenen Erinnerungen an jene Zeit. Dabei folgt er keiner These, sondern zeigt Allios Film als Fixpunkt einer außeralltäglichen kollektiven Erfahrung, die auch nach 30 Jahren noch sehr präsent ist. Gern sieht man den Darstellern dabei zu, wie sie durchaus ironisch ihre Erfahrungen und Erinnerungen austauschen, einander lachend eingestehen, für ein Sequel bereit gewesen zu sein. Doch das Leben ist auch seinen ganz normalen Gang gegangen: Krankheiten, Krisen, Trennungen und Hochzeiten. Philibert zeigt den bäuerlichen Alltag, der sich hier noch immer nicht sonderlich von 1975, vielleicht sogar von 1836 unterscheiden mag, wenngleich die Moderne das Antlitz der Landschaft verändert hat. Auch Spurenelemente des politischen Selbstverständnisses des damaligen Filmprojekts haben sich erhalten, wenn die Darsteller von ihrer damaligen Arbeit am Film erzählen, von ihrer Beschäftigung mit den Figuren, die sie spielten, von der sensibilisierten Beziehung zur (Klassen-)Geschichte, die hieraus erwuchs. Immer wieder kommt es im Verlauf der assoziativ gehaltenen Recherche zu aufschlussreichen (Wieder-)Begegnungen und Erinnerungen, die davon erzählen, dass das Mitwirken an der Produktion eines Kunstwerks Biografien verändert hat. Vielleicht nicht revolutionär, aber immerhin. Der Darsteller des Pierre Rivière, Claude Hébert, machte nach dem Film eine kurze Schauspielerkarriere, verließ dann Paris in Richtung Kanada, wo sich seine Spur verlor. Philibert spürte Hébert, der jetzt Missionar in Haiti ist, auf und arrangiert ein kleines Familientreffen voller Humor, bei dem auch mal wieder lustvoll die Sense geschwungen wird. Zusammengehalten wird der lockere, durchaus subjektive Diskurs, den Philibert hier wagt, allein durch ein ideelles Kraftfeld im Hintergrund: das Bewusstsein, eine ganz besondere Erfahrung bei der Produktion eines Films gemacht zu haben. Insofern ist „Rückkehr in die Normandie“ eine Hommage an eine konkrete Ethik des Filmemachens – und vielleicht der aktuellste Beitrag zur „1968“-Debatte, den man sich 2008 wünschen kann.
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