Jeder siebte Mensch

Dokumentarfilm | Österreich/Luxemburg 2006 | 73 Minuten

Regie: Elke Groen

Beobachtungen in drei ländlichen Regionen Chinas, die bei aller Gleichheit feine soziale und mentale Unterschiede im Leben und Denken der Menschen deutlich machen. Während in einem kommunistischen Musterdorf alles seinen scheinbar gewohnten Gang geht, nutzt man in einem anderen Dorf am Fuße des Himalaya die neuen Freiheiten, um sich auf kulturelle und religiöse Wurzeln zu besinnen. In einem weiteren Dorf in einer wirtschaftlichen Experimentierzone wird das Leben weitgehend durch Arbeitsteilung geprägt, es lassen sich allerdings auch dezente demokratische Strukturen erkennen. Ein aufschlussreicher Dokumentarfilm, der durch die gleichförmige Inszenierung Geduld und Aufmerksamkeit fordert. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
JEDER SIEBTE MENSCH
Produktionsland
Österreich/Luxemburg
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Minotaurus Film/Vilgil Widrich Film- und Multimediaprod./Amour Fou Filmprod.
Regie
Elke Groen · Ina Ivanceanu
Buch
Elke Groen · Ina Ivanceanu
Kamera
Elke Groen
Schnitt
Pia Dumont
Länge
73 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Neue Vision (16:9, 1.78:1, DD2.0 Mandarin, Naxi)
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Diskussion
Innerhalb des Dokumentarfilmgenres hat sich die Volksrepublik China, die sich anschickt, zur globalen Wirtschaftsmacht aufzusteigen, zu so etwas wie einem Subgenre entwickelt. Im Zuge der gewaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen und nicht zuletzt in Hinblick auf die bevorstehenden Olympischen Spiele in Peking hat sich das Interesse vieler Dokumentaristen auf China gerichtet. Die Hybris des Drei-Schluchten-Dammes, (Zwangs-)Umsiedlung, Landflucht und die damit einhergehende Verelendung, das Los entwurzelter Wanderarbeiter, aber auch ein Leben am Rande des Wirtschaftswunders, eingehüllt in die Staubwolken nicht enden wollender Lastwagen-Kolonnen drängen sich als Themen geradezu auf. Die beiden österreichischen Dokumentaristinnen Elke Groen und Ina Ivanceanu richten in „Jeder siebte Mensch“ ihr Augenmerk auf das chinesische Hinterland. In ihrem Film dokumentieren sie das Leben und den Wandel auf dem Land, exemplarisch anhand von drei Dörfern in drei unterschiedlichen Provinzen. Die drei Kapitel ihres Films sind nahezu identisch angeordnet, damit Gleiches ebenso ins Auge sticht wie die Unterschiede in den einzelnen Gemeinden und Geschichten. Sie nähern sich den Dörfern in gemächlichen (Kamera-)Fahrten; dazu werden soziografische Daten eingeblendet (Einwohner, Familien, Fernseher, Telefone, Traktoren, Autos etc.). Schon hier werden gravierende Unterschiede deutlich, die sich dann bei näherer Betrachtung fast von selbst erklären. In Beisuzha etwa, einem kommunistischen Musterdorf südlich von Peking, dessen Hauptbeschäftigung neben dem Maisanbau in der Fertigung von Gummirädern besteht, funktionieren die alten Strukturen noch weitgehend. Ein Dorfkomitee bestimmt nicht nur die Verteilung der Äcker und den Einsatz der Geldmittel, sondern überwacht auch Familienplanung und Geburtenregelung. Das Leben nimmt einen geregelten Gang, Wandzeitungen und Parolen geben die erzieherische Richtung vor, das schmucke Gemeinschaftshaus ziert ein Porträt von Mao, dem man auch 30 Jahre nach seinem Tod sonderbarerweise ein langes Leben wünscht. Die Menschen geben sich aufgeschlossen, sehen hoffnungsvoll in die Zukunft, die für die Kinder noch besser werden soll, und erinnern sich mit Schrecken an die große Hungerkatastrophe Mitte der 1950er-Jahre. In San Yuan, einem Dorf am Rande des Himalaya, sehen die Dinge anders aus. Auch hier bestimmen Kinder das Straßenbild, doch das Gemeinschaftshaus ist verfallen, an das Mao-Bild von einst und die verblassten Sprüche der Partei erinnert man sich nur noch vage. Hier soll Tourismus den Wohlstand bringen. Man plant ein Rehgehege, das Besucher aus der Stadt anlocken soll, geht vorerst aber weiter dem Getreideanbau unter recht antiquierten Bedingungen nach. Hier am Fuße der Berge weht ein anderer Wind. Auch hier wünscht man dem großen Vorsitzenden ein langes Leben, doch dieser Satz scheint eher einstudiert. Viel lieber besinnt man sich auf die eigenen Traditionen, nähert sich wieder der ursprünglichen Naturreligion an und pflegt die eigene Naxi-Sprache. Die Distanz zur fernen Partei findet auch darin ihren Ausdruck, dass man sich vor der Kamera ohne Scheu an die zehn „unruhigen“ Jahre der Kulturrevolution erinnert und keinen Hehl daraus macht, dass die Täter nun mitten unter den einstigen Opfern leben. Vielleicht hat man vergeben; vergessen aber noch lange nicht. Das dritte Dorf, Jiangjiazhai in Zentralchina, ist hingegen ein sozialistisches Experimentierfeld. Die soziografischen Daten signalisieren einen gewissen Wohlstand, was sich beispielsweise am florierenden DVD-Verleih ablesen lässt. Man arbeitet als Tagelöhner in entlegenen Städten, führt Wochenendehen und schwört auf Arbeitsflexibilität. Die Firma Nestlé investiert in die Region, man züchtet Kühe und hat sich anscheinend mit dem Los der Fremdbestimmung abgefunden. Auch hier geben Wandparolen die Richtung vor, doch man traut dem Dorfkomitee nicht über den Weg, weiß man doch von Wahlmanipulationen. Niemand sagt etwas über Mao, kaum jemand macht einen wirklich zufriedenen Eindruck. Der interessante, in seiner Gleichförmigkeit aber auch etwas eintönige Film entstand in Zusammenarbeit mit den porträtierten Dorfbewohnern und ohne staatliche Zensuraufsicht und bescheribt das Leben im agrarischen China, das sich fernab von Metropolen und Ballungszentren noch immer an überkommenen sozialen Strukturen orientiert, die man nur aufspüren muss. Den Regisseurinnen gelingt dieses mit einigem Fingerspitzengefühl, weshalb immer wieder feine soziale, mentale und kulturelle Unterschiede aufschimmern, die deutlich machen, dass China nicht ausschließlich auf dem großen Sprung in Richtung Turbokapitalismus ist, sondern neu gewonnene Freiheiten auch nutzt, um seine Geschichte und Vergangenheit zu bewahren und eine gewisse Individualität zum Ausdruck zu bringen.
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