Die Stadt der Blinden

Drama | Kanada/Brasilien/Japan 2008 | 121 Minuten

Regie: Fernando Meirelles

Eine Seuche lässt Menschen erblinden. Um die Krankheit einzudämmen, werden die Infizierten in einer ehemaligen Irrenanstalt interniert. Dort können die humanitären Zustände mit der wachsenden Zahl der Opfer bald nicht mehr Schritt halten. Adaption eines Romans von José Saramago, in der Fernando Meirelles einmal mehr studiert, wie sich Menschen angesichts entmenschlichender Lebensbedingungen verhalten. Das ambitionierte visuelle Konzept des Films treibt der Geschichte allerdings die krude Sinnlichkeit des Romans aus; die Figuren drohen zu reinen Funktionen innerhalb einer parabelhaften Versuchsanordnung über die conditio humana zu werden. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
BLINDNESS | ENSAIO SOBRE A CEGUEIRA
Produktionsland
Kanada/Brasilien/Japan
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Rhombus Media/O2 Filmes/Bee Vine Pic.
Regie
Fernando Meirelles
Buch
Don McKellar
Kamera
César Charlone
Musik
Uakti
Schnitt
Daniel Rezende
Darsteller
Julianne Moore (Frau des Arztes) · Mark Ruffalo (Arzt) · Alice Braga (junge Frau mit dunkler Beille) · Yusuke Iseya (erster blinder Mann) · Yoshino Kimura (Frau des ersten blinden Mannes)
Länge
121 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion

Es beginnt an einer Ampel: Als das Licht von Rot auf Grün springt, fährt ein Auto nicht an und provoziert ein ärgerliches Hupkonzert: Der Fahrer ist ganz plötzlich erblindet. Bald darauf breitet sich das seltsame Augenleiden, für das keine organische Ursache festgestellt werden kann, wie eine Seuche aus: Es erwischt den Mann, der sich des gehandicapten Autofahrers angenommen, ihn zurück in seine Wohnung gebracht und ihm hinterher den Wagen geklaut hat. Und den Augenarzt, den das erste Opfer aufsucht, die Sprechstundenhilfe sowie mehrere Patienten, die mit im Wartezimmer saßen. Bald füllen sich die Räume einer ehemaligen Irrenanstalt, in der die Kranken isoliert werden, um weitere Infektionen zu verhindern. Doch trotz dieser Maßnahme dauert es nicht lange, bis es mehr Blinde gibt, als das Gebäude beherbergen kann. Zusammengepfercht, von Soldaten bewacht, die jeden erschießen, der den Zäunen der Anlage zu nahe kommt, werden die humanitären Bedingungen immer miserabler; während die Nahrung zur Neige geht, wird an Mitmenschlichkeit gespart und bröckelt die Fassade der Zivilisiertheit. Schließlich schwingen sich die Bewohner eines Zimmerblocks unter einem „Führer“, der im Besitz einer Pistole ist, zu grausamen Diktatoren auf.

Einmal mehr studiert Fernando Meirelles nach „City of God“ (fd 35 938) und „Der ewige Gärtner“ (fd 37 414) das Verhalten von Menschen, die mit entwürdigenden, unmenschlichen Lebensumständen konfrontiert werden, und einmal mehr legt er dabei im Umgang mit seinen Erzählmitteln gestalterischen Ehrgeiz an den Tag. Ähnlich wie Camus’ „Die Pest“ nutzt der Roman des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago, der dem Film zugrunde liegt, das Motiv der Epidemie, um die Solidität sozialer und ethischer Spielregeln auf den Prüfstand zu stellen – wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass es mit humanistischen Idealen in Krisenzeiten schnell vorbei ist. Die Blindheit, die das Krankheitsbild ausmacht, ist denn auch nicht zuletzt parabelhafter Natur – eine Überhöhung der (moralischen) Beschränktheit des Menschen. Wie bei Camus ist die Figur, auf deren Erleben der Schwerpunkt liegt, auch hier ein Charakter, der dafür prädestiniert ist, dem um sich greifenden Verfall entgegenzutreten: An die Stelle des Arztes aus der „Pest“ tritt die Frau des Augenarztes, die als einzige gegen die Seuche immun zu sein scheint. Trotzdem lässt sie sich zusammen mit ihrem Mann in der Anstalt internieren. Sie tut ihr Bestes, das Los der Mitinsassen zu erleichtern – und wird im wahrsten Wortsinn zur Augenzeugin.

Man merkt Meirelles’ Film an, dass sich der Filmemacher viele Gedanken gemacht hat, wie Saramagos Roman am besten ins Medium Film zu übertragen sei. An die Stelle einer Syntax, die die Destabilisierung der sozialen Infrastruktur in der Text-Struktur spiegelt (indem an Punkten gespart und direkte Rede nicht durch Anführungszeichen markiert wird), treten bei Meirelles Einstellungsgrößen, Blickwinkel und eine Montage, die die Orientierung erschweren. Überbelichtungen – als Visualisierung der Krankheit, die sich im Gegensatz zur „normalen“ Blindheit dadurch kennzeichnet, dass für die Betroffenen die sichtbare Welt in einem milchigen Weiß verschwindet – sowie extrem dunkle Bilder auf der anderen Seite sorgen zusätzlich für Irritationen und Behinderungen des Blicks. Mit diesem stilisierten visuellen Konzept hebt Meirelles seine Romanverfilmung nicht zuletzt auch von den oft reißerisch-realistischen Bildern des zwischen Thriller und Horror angesiedelten Seuchenfilm-Genres ab – nur treibt er damit der Geschichte leider gleichzeitig jene beklemmende Sinnlichkeit aus, die eine der großen Stärken des Buches ist. Kann man bei Saramago die sich sammelnden Müllberge, den Kot, die faulenden Wunden und nicht begrabenen Leichen förmlich riechen und das ganze Ausmaß der Verwahrlosung drastisch nachfühlen, dem die internierten Blinden ausgesetzt sind, bleibt Meirelles Film seltsam steril.

Dazu trägt auch bei, dass es die Dramaturgie den Figuren trotz beachtlicher Schauspieler-Leistungen nicht erlaubt, jenseits ihrer Funktion in der Parabel wirklich Kontur anzunehmen. Die Vielzahl der Charaktere, die in diesem „Bericht“ eine Rolle spielen, trägt in der Filmadaption eher zur Holzschnitthaftigkeit und Leblosigkeit der Geschichte bei als zum Facettenreichtum; eine noch stärkere Konzentration auf die Hauptfiguren – die von Julianne Moore mit gewohnter Ausdruckskraft verkörperte Arztfrau und ihren Ehemann – hätte vielleicht Abhilfe geschafft. So aber ist der knapp zwei Stunden lange Film nur schwer (emotional) nachvollziehbar; die existenzielle Wucht, die Saramagos Buch auszeichnet, wird nur in wenigen Momenten spürbar.

Diese finden sich vor allem, wenn erkundet wird, wie sich die Beziehung des Arztpaares unter dem Druck der Not verändert, oder in der zweiten Hälfte, wenn der Film das klaustrophobische Innere der Irrenanstalt verlässt und sich mit seinen Figuren in eine postapokalyptische, von der Seuche gezeichnete Stadtlandschaft hinauswagt. Da spricht aus Blicken am Rande eine Trauer angesichts des Verlusts an Menschlichkeit, die sich sonst in diesem Film viel zu selten vermittelt.

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