Trennung (2008)

Drama | Israel/Frankreich/Deutschland/Italien 2007 | 115 Minuten

Regie: Amos Gitai

Nach der Beerdigung ihres Vaters in Avignon, die einem Israeli französischer Abstammung ein Wiedersehen mit seiner unkonventionellen Schwester beschert, reisen die beiden Geschwister gemeinsam nach Israel. Dort werden sie auf unterschiedlichen Wegen Zeugen von Trennungen, Abschieden und aufgewühlten Emotionen, die sowohl private als auch geopolitische Ebenen berühren. Ein hoffnungsvoller Film, der an einen Frieden im Nahen Osten glaubt, allerdings nur im Zuge einer gleichberechtigten, bilateralen Begegnung. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DÉSENGAGEMENT | HITNATKOOT | DISIMPEGNO | DISENGAGEMENT
Produktionsland
Israel/Frankreich/Deutschland/Italien
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Agav Films/Pandora Filmprod./Agat Films/Coca Color/Hamon Hafakot/United Kings Films/Arte France Cinéma
Regie
Amos Gitai
Buch
Amos Gitai · Marie-José Sanselme
Kamera
Christian Berger
Musik
Simon Stockhausen · Gustav Mahler
Schnitt
Isabelle Ingold
Darsteller
Juliette Binoche (Ana) · Liron Levo (Uli) · Jeanne Moreau (Françoise) · Barbara Hendricks (Barbara) · Dana Ivgy (Dana)
Länge
115 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama

Diskussion
Ein Mann und eine Frau begegnen sich vor einem Zugabteil, gemeinsam rauchen sie eine Zigarette. „Ich dachte, das Sammeln von Nationalitäten sei eine jüdische Strategie“, entgegnet der Israeli französischer Abstammung der Palästinenserin mit holländischem Pass. Diese flüchtige Begegnung zweier Menschen, deren Völker sich im gegenseitig verursachten Ausnahmezustand befinden, endet mit einem leidenschaftlichen Kuss. Regisseur Amos Gitai verlegt seine neueste Bestandsaufnahme israelischer Befindlichkeiten in das Jahr 2005, in dem sich die Sharon-Regierung zum Abzug aus dem Gaza-Streifen entschloss. Natürlich hat die flüchtige Reisebegegnung im Zug, der ein Abschied inhärent ist, als augenzwinkernder Prolog etwas Symbolisches, wenn das folgende Familiendrama von Trennungen, Grenzen und erneuten Annäherungen durchzogen wird. Es geht um das Scheiden von Menschen, vom Leben, von Territorien und um die Wiedervereinigung mit geliebten Angehörigen sowie mit einem Land, auf das zwei Nationen Anspruch erheben. Der Mann aus dem Zug heißt Uli, der in ein paar Tagen als Sonderpolizist die Zwangsevakuierung israelischer Siedler im Gaza-Streifen organisieren soll. Jetzt ist er unterwegs nach Avignon, um zuvor den gerade verstorbenen Vater zu beerdigen. Die prunkvoll verfallenen Altbauzimmer des städtischen Familienhauses, in denen sich die Kamera in fließenden Bildern unter den Tönen von Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ bis zum Totenbett vorarbeitet, atmen die Schwere und den Stillstand des europäischen Großbürgertums. Ein für Uli ungewohnter Zustand des Friedens und der Wahrung oberflächlichen Scheins, in dem ihm jedoch eine junge Frau entgegen wirbelt, die sich der väterlichen Disziplin, ihrem Ehemann und den aufoktroyierten Konventionen endlich zu entziehen beginnt. Juliette Binoche stattet die rebellische Figur von Ulis Halbschwester Ana mit einer faszinierenden Mischung aus Impulsivität, kindlicher Naivität und fast schon inzestuöser Sehnsucht aus, mit der sie spielerisch die geschwisterlichen Grenzen auslotet. Als Ana jedoch bei der Testamentsvollstreckung erfährt, dass sie ihre Tochter Dana, die sie vor 20 Jahren kurz nach der Geburt in einem Kibbuz zurückließ, über ihr Erbe persönlich in Kenntnis setzen muss, reist sie mit Uli zurück nach Israel. Die Geschwister werden getrennt: Während Uli zum Vollstrecker des säkularen Staates gegen die tiefgläubigen, sich fanatisch ihrer Entwurzelung wehrenden Siedler wird, gerät Ana bei der Suche nach ihrem Kind auf die andere Seite des Grenzwalls – und somit in den Brennpunkt eines in sich zerrissenen Landes. Unbeteiligt und mit staunenden Augen wird sie gleichsam aus europäischer Perspektive zur unbedarften Zeugin, wie staatliche Entscheidungen bis ins kleinste Private eindringen. Durch Sprach-, aber auch Erfahrungsbarrieren trifft die aufgeheizte Atmosphäre während der Zusammenstöße von Israelis gegen Israelis ebenso wie die aufgebrachte Predigt eines palästinensischen Demonstranten bei Ana wortwörtlich auf Unverständnis. Umso brillanter in ihrer bestechenden Authentizität ist die stille Zusammenführung von Mutter und Tochter geraten, als um sie herum der Tumult und der machtlose Schmerz angesichts der Abrissaktion zwangsentleerter Wohnhäuser toben. In diesen finalen Szenen überschneiden sich eine räumliche Trennung zu Palästina und eine emotionale Annäherung an Europa, wobei das distanzierte Verhältnis und die gemeinsame (Familien-)Geschichte auf der privaten wie geopolitische Ebene korrespondieren. Von dem Kontrast zwischen westlicher Behäbigkeit und östlichen Raumverschiebungen, zwischen etablierter Statik und existenziellen Umbrüchen, die sich auch in der Architektur der raumgreifenden Stadtwohnung und der eher auf Effizienz denn auf Nachhaltigkeit erbauten Hütten der Siedler widerspiegeln, lebt Gitais Annäherung an ein sensibles Thema. Dabei gibt er seinen dokumentarisch anmutenden kritischen Standpunkt zur indifferenten Siedlungspolitik seines Heimatlandes trotz Respekts für die religiösen und heimatverbundenen Gefühle der Siedler nie auf. In einem Gastauftritt als Freund von Uli und Fahrer von Ana versucht Gitai, die nervösen Grenzposten mit ruhiger Vernunft und einem Appell an die Menschlichkeit zum Durchlass ins militärische Sperrgebiet zu bewegen. Ein versöhnlicher, argumentativer Schlüssel, der viele Ohren und Tore öffnet. Im Gegensatz zu den ruhigen, langatmigen Einstellungen des Kammerspiels ist im vielköpfigen, hektisch lärmenden Aufruhr an den Grenzen Israels bei Amos Gitai nichts von Bestand; alles und jeder ist in Bewegung, und das nicht immer zum Guten. Und doch trägt die wortlos berührende Vereinigung von Ana mit Dana und Uli am Ende den Keim der Hoffnung nach Frieden im Nahen Osten in sich – vorausgesetzt, dass mehr Gemeinsamkeiten gefunden werden als das von beiden Seiten beanspruchte Land.
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