Nacht vor Augen

Drama | Deutschland 2008 | 91 Minuten

Regie: Brigitte Maria Bertele

Ein junger deutscher Zeitsoldat kehrt traumatisiert von seinem Einsatz in Afghanistan zurück und lebt seinen Selbsthass und seine widersprüchlichen Gefühle an seinem achtjährigen Halbbruder aus, dessen kindliche Weichheit er verachtet. Mit martialischen Methoden will er ihn zum "Mann" machen. Als sein Verhalten immer auffälliger wird, muss er sich einer Zwangsbehandlung unterziehen. Ein emotional aufgeladenes Drama, das nach einem holprigen Anfang zunehmend an Glaubwürdigkeit gewinnt. Der überzeugende Darsteller vermittelt dabei intensiv die seelischen Nöte seiner Figur. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
noirfilm Filmprod./SWR
Regie
Brigitte Maria Bertele
Buch
Johanna Stuttmann
Kamera
Mathias Prause
Musik
Christian Giegai
Schnitt
Stephan Krumbiegel
Darsteller
Hanno Koffler (David) · Petra Schmidt-Schaller (Kirsten) · Jona Ruggaber (Benni) · Margarita Broich (Inge) · Wolfram Koch (Rainer)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Deutsche Kriegsdramen aus der Jetztzeit sind rar. Umso lobenswerter ist, dass sich Filmdebütanten des Themas Rückkehrer vom Friedenseinsatz annehmen. Auch wenn „Nacht vor Augen“ nach Klassikern wie „Coming Home“ (fd 20 812), „Taxi Driver“ (fd 19 983) oder zuletzt Paul Haggis' Irak-Kriegsdrama „Im Tal von Elah“ (fd 38 594) nicht viel Neues über das posttraumatisches Belastungssyndrom erzählt, nimmt der Film durch den Bezug zur immer noch aktuellen Realität der ISAF-Truppen gefangen, die seit nunmehr sieben Jahren den Anti-Terror-Kampf in Afghanistan führen. Mit ihren seelischen Verletzungen bringen die blutjungen Veteranen den Krieg auf deutschen Boden. Alle vier Monate treten die Zeitsoldaten die Rückreise an und werden durch neue Freiwillige ersetzt. David ist einer von ihnen. Seine psychischen Narben wachsen im Verlauf des von Brigitte Maria Bertele mit einfachen Bildern realistisch inszenierten Films zu wahren Wundkratern heran. Kampfszenen kommen bei ihr nur als schemenhafte Erinnerungsfetzen vor. Der wahre Kampf nach dem Kampf steht ihrem auf ein maskulin überlegenes Erscheinungsbild bedachten Helden noch bevor. Weder findet der 25-Jährige den Rhythmus seines Heimatdorfes wieder, noch die körperliche Nähe zu seiner Freundin; selbst die alkoholselige Entspannung mit seinen ahnungslosen Kumpels, die ihn mit „Rocky Kabul“ begrüßen, macht keinen Spaß mehr Über das Erlebte kann er nicht reden. Ohnehin interessiert sich die einfach gestrickte Umgebung des Sanitäters nur für Abenteuer und Heldengeschichten, nicht für die Bilder von verstümmelten Toten, die David in seinem Laptop wie Beweisstücke der inneren Verletzungen mit sich herumschleppt. Im Schlaf suchen ihn die Erinnerungen an einen Einsatz heim, bei dem er, nervlich der Situation nicht gewachsen, einen kleinen afghanischen Jungen erschossen hatte. Ausgerechnet sein achtjähriger Halbbruder Benni muss als Ventil für seine Gewissensqualen herhalten. David, der sich der von der Bundeswehr angebotenen psychologischen Betreuung verweigert, führt einen Stellvertreterkrieg und sucht sich das schwächste Glied in der Kette als Zielscheibe. Scheinbar liebevoll verbringt er ganze Tage mit dem mädchenhaften und bettnässenden Jungen im Wald, um ihn mit martialischen Methoden von seinen Ängsten zu befreien und endlich zum Mann zu machen. Mal rennt er vor dessen Augen in einem Anfall von Autodestruktion mit einem Sack auf dem Kopf gegen Bäume, mal lässt er den Knirps über Eisenbahnbrücken balancieren. Er verachtet Bennis kindliche Weichheit, weil sie ihn an die eigene Unzulänglichkeit im Einsatz erinnert. Zwischen Selbsthass, tiefer Verletzlichkeit und männlichem Aggressionsstau mutiert er zunehmend zum Amokläufer, der den eigenen inneren Terror gegen die Außenwelt wendet. Hanno Koffler, der bisher in Coming-Of-Age-Filmen in zweiter Reihe agierte, gelingt mit viel Körpereinsatz eine unerwartete Wandlung zum Charakterdarsteller, die er nuanciert und jede Minute präsent mit Bravour meistert. Die Eskalation seiner Figur baut das zu Anfang noch mit holprigen Dialogen irritierende Drehbuch von Johanna Stuttmann mehr als glaubwürdig auf, wenn David im Finale die aus Afghanistan eingeschmuggelte Pistole Benni in die Hand drückt und ihn mit gezielten Provokationen und Liebesentzug nötigen will, auf ihn zu schießen. Das sind Szenen voller Wut und Verzweiflung, die unter die Haut gehen und sich in dieser Wucht zurzeit nur in Nachwuchsfilmen finden. Die Emotionen, die sonst gerne in Großspektakeln aus der Eichinger-Fabrik herbei gestanzt werden, sind hier echt. Dazu passt, dass Davids brüchig gewordene Existenz gänzlich unspektakulär weiterläuft. Bei einem Fußballspiel randaliert er und beschimpft andere so lange, bis er von der Bundeswehrpsychologin zur Behandlung abtransportiert wird. Einen Schnitt weiter sitzt er niedergeschlagen in einem Zug und schluckt Medikamente. Es ist seine zweite Rückkehr nach Hause in den Schwarzwald. Ob es die Ruhe vor dem Sturm ist, oder die Ankunft im schreckensfreien Alltag, bleibt in diesem mitfühlend schonungslosen Debüt offen.
Kommentar verfassen

Kommentieren