East/West - Sex & Politics

Dokumentarfilm | Deutschland 2008 | 97 Minuten

Regie: Jochen Hick

Ambitionierter Dokumentarfilm, der Einblicke in die Schwulen-Szene in Moskau gewährt und dabei mit jener extrem homophoben Gewalt konfrontiert, mit der reaktionäre Gruppen auf die Szene und ihre Gay-Pride-Paraden reagieren. Jochen Hick beschreibt aber ebenso die Grabenkämpfe und unterschiedlichen Interessen innerhalb der Homosexuellen-Bewegung. Der vielschichtige und informative Film zeichnet ein differenziertes Bild der russischen Gesellschaft und ermöglicht eine aufschlussreiche Annäherung an den russischen Alltag.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Galeria Alaska Prod.
Regie
Jochen Hick
Buch
Jochen Hick
Kamera
Jochen Hick
Musik
Matthias Köninger · Stefan Kuschner
Schnitt
Alexander Fuchs
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12 (DVD)
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
GMfilms (16:9, 1.78:1, DD2.0 engl. & dt. & russ.)
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Diskussion
Dass es in Berlin einen Regierenden Bürgermeister gibt, der gesagt haben soll: „Ich bin schwul, und das ist auch gut so!“, sorgt in Moskauer Schwulen-WGs noch immer für ungläubiges Staunen. In Moskau ticken die Uhren leider noch etwas anders: Wenn Homosexuelle hier die Öffentlichkeit der Gay Pride-Paraden suchen, müssen sie damit rechnen, beschimpft, verhaftet oder verprügelt zu werden. Dann stehen ihnen alte Mütterchen gegenüber, die sich fortwährend bekreuzigen, während sie die Homosexuellen als „Ausgeburt der Hölle“ beschimpfen. Oder bärtige Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche, deren martialisches Auftreten an die Hell’s Angels gemahnt. Die Bilder von den gewaltsamen Ausschreitungen der Gay Pride-Paraden 2006 und 2007 gingen durch die Medien, auch, weil westliche Beobachter wie der Grünen-Politiker Volker Beck damals körperlich attackiert wurden, obwohl der Artikel 121 des russischen Strafgesetzbuches, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte, bereits unter der Regierung Jelzin abgeschafft wurde. Für die westlichen Beobachter der Gay Pride-Paraden steht nach den Ausschreitungen fest, dass Russland keine Demokratie ist. Ihr moralischer Protest basiert auf der Forderung nach der Universalität der Menschenrechte. Doch was zunächst ganz klar und deutlich scheint, wird in Jochen Hicks Film „East/West – Sex & Politics“ durch eine Weiterung der Perspektive schnell widersprüchlich, komplex und schwer durchschaubar. Da ist Putin, der öffentlich erklärt, dass ihn Homosexualität nur unter demografischen Gesichtspunkten sorge (und der für eine solch dämliche Bemerkung nicht ausgelacht wird!). Da ist der Moskauer Bürgermeister Yurii Luzhkov, der die Gay Pride-Paraden verhindern will, weil sie Propaganda seien und der auf einer internationalen Konferenz im Beisein von Klaus Wowereit sagt, Tabakwerbung werde schließlich auch verboten. Da ist die junge Fernsehjournalistin, die vor laufender Kamera erklärt: „Wenn sie den ganzen Tag Propaganda für oder gegen Schwule sehen, denken Kinder mehr über dieses Thema nach, als es gut für sie ist.“ Da ist der im Umgang mit Kameras gewiefte Gay-Aktivist und Organisator der Gay Pride-Paraden, Nikolai Alekseev, der über gute internationale Kontakte verfügt, allerdings innerhalb der Moskauer Gay Community viele Kritiker hat. So kritisiert Ed Mishin, Herausgeber mehrerer homosexueller Publikationen, ganz offen die Relevanz der Gay Pride-Paraden, weil sie die homophobe Aggression der russischen Gesellschaft gewissermaßen wie unterm Brennglas konzentriere. Mishin plädiert entschieden gegen ein offensiv öffentliches Auftreten: „Es ist alles schlecht und homophob, aber privat ist es freundlich und offen. Wie üblich in unserem Land, alles passiert verdeckt.“ Hicks Film liefert eine Menge Hinweise, dass Mishins Einschätzung richtig sein könnte, wenn er mit der Kamera durch die schwule Subkultur Moskaus flaniert und Eindrücke des ausgelassenen Nachtlebens sammelt. Je mehr AktivistInnen, Künstler, DJs und andere Personen vor der Kamera zu Wort kommen, desto verwirrender wird die Situation. Beklemmend sind die Bilder von den Gay-Pride-Paraden, die etwas von der staatlich tolerierten Pogromstimmung erahnen lassen. Noch beklemmender sind die vielen Erzählungen über konkrete Gewalterfahrungen im Alltag, unter denen nicht nur sexuelle Minderheiten zu leiden haben. Zur Homophobie gesellen sich offene Xenophobie und rechtsradikale Schlägertrupps, die die Interessen einer wieder erstarkten russisch-orthodoxen Kirche wahrnehmen, die ihren politischen Einfluss auf Schule, Armee und Parlament erweitern will und sich als politische Kraft zu etablieren versucht. Gleichzeitig erfährt man – angesichts der Schilderungen von Gewaltakten durchaus staunend –, dass die Verhältnisse in Moskau vergleichsweise liberal sind. Internationale Proteste würden die politischen Eliten Russlands nicht kümmern, wirtschaftliche Sanktionen dagegen zeitigten schnell Wirkung. Letztlich führt Hicks äußerst sehenswerter Film nachdrücklich vor Augen, dass Menschen, die Erinnerungen an Jahrzehnte der Unterdrückung und willkürlichen Gewalt mit sich herumtragen, eine differenzierte und differente Verständlichkeit von Begriffen wie „Freiheit“ oder „Öffentlichkeit“ haben, die man nicht vorschnell vom Tisch wischen sollte. Jochen Hick ist mit „East/West Sex & Politics“ eine ganz erstaunliche und in ihrer Vielstimmigkeit faszinierende Annäherung an den russischen Alltag gelungen, unterlegt, dies nur am Rande, mit einem vorzüglichen Soundtrack elektronischer Musik.
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