Christoph Schlingensief - Die Piloten

Dokumentarfilm | Deutschland 2007 | 95 Minuten

Regie: Cordula Kablitz-Post

Zehn Jahre nach dem Talk-Format "Talk 2000" produziert Christoph Schlingensief den "Piloten" für eine Talkshow mit prominenter Besetzung. Absicht ist die Hinterfragung der medialen Selbstdarstellung, wobei das Projekt nicht reine Provokation ist, sondern durchaus berührende und nachdenkliche Züge annimmt, wenn persönliche Betroffenheit und Befindlichkeit zum Ausdruck kommen. Der Film konzentriert sich auf den radikalen Ich-Erzähler Schlingensief, muss sich letztlich aber (bewusst) im Kreis drehen, weil die Frage, wie das Fernsehen mit den Mitteln des Fernsehens kritisiert werden kann, unbeantwortet zu bleiben hat.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
avanti media/ZDF/ARTE
Regie
Cordula Kablitz-Post
Buch
Cordula Kablitz-Post
Kamera
Christoph Lerch · John Toft · Frederic Doss · Günther Uttendorfer · Axel Lüttich
Schnitt
Lars Billert
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Talkmaster Christoph hat eine große Sorge: Vater und Großvater sind bereits erblindet. Und der eigene Sehnerv? Warum sieht der so aus, wie er aussieht? Da wird einem ja ganz blümerant, da muss man – jetzt ganz Talkmaster – drüber reden, oder? Über Krankheit, Ängste, Hypochondrie. Über Drusenpapillen und Selbst- und Fremdverschmutzung des Auges. Wozu ist man schließlich in einer Talkshow, die doch keine ist, sondern eher eine Simulation von Talkshow als Performance, deren Titel lautet: „Die Piloten – eine Talkshow in 6 Folgen, die nie ausgestrahlt wird“. Christoph Schlingensief hat eingeladen, und alle kommen: Claudia Roth, Oskar Roehler, Rolf Zacher, Rolf Hochhuth, Klaus Staeck, Hermann Nitsch, Lea Rosh, Jürgen Fliege, Gotthilf Fischer, Katharina Schüttler und Sido. Keiner weiß, was passieren wird – auch Schlingensief selbst nicht. Was prinzipiell möglich ist, zeigt Regisseurin Cordula Kablitz-Post in einem Rückblick auf das legendäre Format „Talk 2000“, als es zwischen Schlingensief und einem enttäuschten Fan zu Handgreiflichkeiten kam. Weil aber nie ganz klar ist, wann bei Schlingensief die Inszenierung anfängt oder aufhört, weil es vielleicht vor der Kamera überhaupt keine Authentizität gibt, sondern höchstens deren strategische Behauptung, müssen auch die „Handgreiflichkeiten“ in Anführungszeichen stehen. So ist man denn auch skeptisch, wenn in „Die Piloten“ ein paar Blicke hinter die Kulissen geworfen werden. Selbst die fortwährenden Konflikte zwischen Schlingensief und seiner schrillen Glam-Rock-Studioband „The Pleasures“ könnten Teil der Show sein, weil diesmal der exzentrische Talkmaster selbst ins Zentrum des filmischen Interesses rückt. Schlingensief hat in den vergangenen Jahren eine steile Karriere vom Enfant terrible der Theater- und Filmszene zum Liebling der Feuilletons hinter sich gebracht, wobei nie so recht verständlich wurde, welches symbolische Kapital bei dieser Karriere wohin transferiert worden ist. Glaubt man den Bildern der „Piloten“, dann hat seine frühere Lausbubenhaftigkeit mittlerweile durchaus Momente einer schmierigen Selbstgefälligkeit angenommen. Irritiert wird man Zeuge, wie Schlingensief seine langjährige Mitarbeiterin Susanne Bredehöft begrüßt, die ihm einen nicht sonderlich komischen Einfall mitteilt, worüber Schlingensief sich derart künstlich amüsiert, wie man es in dieser Form professioneller Herablassung bestenfalls von Gottschalk, Raab & Kerner erwarten würde. Aber vielleicht ist gerade diese Assoziation von Schlingensief beabsichtigt worden. Gleichwohl ist das Verhalten der Gäste interessant zu beobachten. Jeder muss damit rechnen, vom Talkmaster „fertiggemacht“ zu werden, was als Drohung bei Schlingensief offenbar immer mitschwingt. Fernsehpfarrer Jürgen Fliege sollte von Schlingensief in einer anderen Talkshow einmal fertiggemacht werden, aber dann solidarisierte sich Fliege überraschend mit Schlingensief, der gerade von einem anderen Moderator vorgeführt wurde. Das wird als Anekdote hereingereicht – mittlerweile kommt Fliege gerne zu Schlingensief. Andere Gäste wie Rolf Hochhuth oder Sido scheinen dem Geschehen ohnehin nicht gewachsen, reklamieren immer wieder vergeblich eine Rückkehr auf den sicheren Boden der Konventionen. Doch es gibt hier nicht nur Promi-Gäste, sondern auch Gäste, die mit einer Fake-Biografie ausgestattet wurden wie die Ex-Angestellte des Suhrkamp Verlags, die von Mobbing, Schlägereien, ungewollten Schwangerschaften innerhalb des ehrwürdigen Verlagshauses berichtet. Auch im Publikum sitzen Teile des Ensembles und spielen ihre Rollen. Ist das Jonathan Meese? Oder sieht da nur jemand so aus wie Jonathan Meese? Es ist durchaus unterhaltsam zu beobachten, wie die Gäste und auch das Publikum mit unterschiedlichsten Strategien versuchen, sich vor Unvorgesehenem und Unvorhersehbarem zu schützen – ein einverständiges Augenzwinkern in Richtung Publikum reicht oft nicht. Dann aber touchiert Schlingensief unversehens die Schmerzgrenze, indem er das Sterben seines Vaters zum Gegenstand der Show macht. Wäre es, so die rhetorische Frage, nicht unendlich viel wichtiger, jetzt dem sterbenden Vater in Mühlheim die Hand zu halten, als hier in Berlin „Piloten“ zu produzieren, die nie gesendet werden? Wenig später wird Schlingensief seinen (falschen) Vater auf der Bühne präsentieren. Nach einer innigen Umarmung ist er sichtlich gerührt, weil der sterbende Vater eben keine Fiktion ist. Unterscheidet sich Schlingensiefs Verhalten an dieser Stelle von demjenigen Claudia Roths, die zur Begrüßung kurz klarstellt, dass sie nicht so gut drauf sei, weil sie gerade erfahren habe, dass ein guter Freund, der türkisch-armenische Autor Hrant Dink, wenige Stunden zuvor ermordet wurde? Was sie unheimlich betroffen macht, aber gleichzeitig nicht davon abhält, an einer Talkshow teilzunehmen. Immer wieder kippt das Groteske medialer Selbstdarstellung, das im Fernsehen selbst schon früh in einem Format wie „TV Kaiser“ unterhaltsam thematisiert wurde, ins bloß noch Gespenstische, dessen Doppelbödigkeit sich einer Analyse auf einer Meta-Ebene entzieht. Deshalb bleibt die nachgereichte Analyse des Geschehens durch den Theoretiker Boris Groys auch hinter dem Geschehen zurück. Die Aufnahmen zu „Die Piloten“ stammen vom Januar und Juli 2007. Mittlerweile ist Christoph Schlingensief selbst schwer krank, hat seine Krankheit zum Gegenstand einer Kunstaktion („Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“) und damit selbst sehr offensiv öffentlich gemacht. Doch in Zeiten, in denen Selbstmorde im Fernsehen gesendet werden, wirkt diese Provokation nicht mehr. So bleibt „Die Piloten“, gedreht im Auftrag von arte, eine wenig erhellende Tautologie: Fernsehen ist Müll ist Fernsehen ist Müll. Einige Wochen nach der von Marcel Reich-Ranicki losgetretenen und durchaus der Schlingensiefschen Logik folgenden Debatte über Qualitätsfernsehen verpufft das kritische Potenzial von „Die Piloten“ nahezu vollständig und wird selbst zu Trash. Interessanter ist, dass „Die Piloten“ einmal mehr klarstellt, dass Schlingensief kein Provokateur ist, sondern vielmehr ein radikaler Ich-Erzähler, der sein Leben zur Grundlage und zur Munition seiner Kunst macht. Zetzt eben auch den Tod seines Vaters und seine eigene Krankheit.
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