Die dünnen Mädchen

Dokumentarfilm | Deutschland 2008 | 95 Minuten

Regie: Maria Teresa Camoglio

Dokumentarfilm über acht magersüchtige junge Frauen, die in einer Spezialklinik von ihrer selbstzerstörerischen Krankheit loskommen wollen. In der Begegnung mit den Anorexikerinnen setzt die kunstsinnige Inszenierung primär auf arrangierte Elemente wie einen Flamenco-Kurs, der zur bildmächtigen Metapher für die Krankheit wie ihre Heilung wird. Der lebensbejahende, formal bestechende Film zeigt dank seiner klugen Dramaturgie den steinigen Weg der Süchtigen zum Kern ihres Leidens und macht deren unzugängliche Gefühle nacherlebbar. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Chiaroscuro Filmprod./3sat/ZDF
Regie
Maria Teresa Camoglio
Buch
Michael Bertl · Maria Teresa Camoglio
Kamera
Sophie Maintigneux
Schnitt
Heike Gnida
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Magersucht ist kein Phänomen, das auf die Gegenwart beschränkt wäre. Hedwig von Schlesien, eine Heilige des 13. Jahrhunderts, oder die französische Philosophin Simone Weil, die man heute beide unter die Anorexikerinnen zählen würde, entkräften außerdem den Verdacht, dass es sich bei dieser Form von Essstörung lediglich um fehlgeleitete Schlankheitsideale geltungssüchtiger Models handelt. Die acht jungen Frauen, die sich in „Die dünnen Mädchen“ der Kamera anvertrauen, lassen vielmehr einen grausamen Teufelskreis erahnen, der sie als pubertierende Teenager in die Fänge krankhaften Hungerns getrieben hat. Der Auslöser ist dabei so diffus wie die psychischen Hintergründe: der Tod der Schwester, die Behinderung des Vaters, eine fehlende Kindheit, Widerstand gegen die Eltern, Einsamkeitsgefühle, gesteigerte Sensibilität, der Drang zur Perfektion. Es gibt kein klares Muster, nur eine vergleichbare Reaktion: die penible Kontrolle über den eigenen Körper, der dabei allmählich aufgezehrt wird – in 15 von hundert Fällen bis zum Exitus. Doch der Dokumentarfilm von Maria Teresa Camoglio ist kein Film über eine Krankheit zum Tode, sondern im Gegenteil eine visuell betörende Reise von der Dunkelheit ins Licht. Er handelt vom Aufbruch, von den Ängsten, Zweifeln und Kämpfen der Protagonistinnen, die sich in einer Spezialklinik in der Lüneburger Heide Gramm für Gramm ins Dasein zurück tasten. Zwar gibt es einige Videosequenzen über den Klinkalltag oder eine (real-) satirische Anleitung für angehende Anorexikerinnen; der größte Teil des Films aber ist eine kunstsinnige Inszenierung in dem Sinne, dass ein Flamenco-Kurs, die Betrachtung von Bildern des Malers Edward Munch oder gemeinsames Kochen eigens für die Filmarbeiten arrangiert wurden. Vor allem der Flamenco wird dabei von der ersten Anprobe der Tanzschuhe bis zur finalen Aufführung zur bildmächtigen Metapher für die Krankheit wie ihrer Heilung. Die ebenso kraftvollen wie grazilen Bewegungsabläufen des Tanzes demonstrieren eine selbstbewusste Weiblichkeit, die den schmalen jungen Frauen anfangs gänzlich mangelt. „Flamenco hat mit Stolz zu tun“, bringt es die Lehrerin auf den Punkt, „jeder muss sehen, dass ich da bin.“ Bis dorthin ist es freilich ein weiter, harter Weg, wenngleich die Kamera die Frauen schon von Beginn an in ein herbstlich weiches, fast goldenes Licht setzt, das die Schönheit und Würde jeder einzelnen unterstreicht; wobei die raffiniert versetzten Blickperspektiven auf die Spiegelwände des Tanzsaals auf ihre Weise mit der Dualität von Wunsch und Wirklichkeit, spielen. Zur heilenden Aura der im Flamenco zu sich kommenden Mädchenfrauen will auch die rhetorische Versiertheit passen, mit der in den Interviews die Lebensschicksale und ihre Deutungen ausgebreitet werden. Diese Gespräche sind in gewisser Weise das informative Herzstück des Films, intime Geständnisse und Selbstreflexionen, die sich durch den Schnitt zu einer therapieerfahrenen Erzählung fortspinnen, worin die Umrisse des Medusenhauptes Anorexie schemenhaft sichtbar werden: Beim Versuch, existenzielle Nöte über den Umweg des Nichtessens auszugleichen, binnen kurzem in einer selbstmörderischen Zwanghaftigkeit zu landen, in der sich alles nur noch um Kalorien und dem im schwindenden Körper scheinbar erstarkenden Ich dreht – was die angestrebte Kompensation des Mangels endgültig ad absurdum führt. Doch gerade in der mentalen Abgeklärtheit, mit der die „dünnen Mädchen“ über ihr Leiden Auskunft geben – der Titel bezieht sich auf die sich bis in die Physiognomie dokumentierende Weigerung, eine erwachsene Frau zu werden –, verbirgt sich der zerstörerische Kern der „Krankheit der Gefühle“: der verschüttete Zugang zu den Emotionen. Der dramaturgisch souverän strukturierte Film spart seinerseits den Moment lange aus, in dem die intellektuelle Deutehoheit der Frauen über ihr Leiden kollabiert und die nackte Angst alle klugen Gedanken über den Haufen wirft. Erst dann beginnt man als Zuschauer zu erahnen, wie zermürbend der Kampf aus der Abhängigkeit sein kann, nicht nur der aus der Magersucht. Denn hier liegt die Heilung gerade nicht in radikaler Askese, sondern in einem gesunden Maß, das immer wieder neu austariert werden muss. Doch es besteht Grund zur Hoffnung: Nimmt man die Fortschritt beim Flamenco-Tanz, wie sie der lebensbejahende Film vor Augen führt, will man gerne glauben, „dass die Gefühle mit jedem Kilo, das wiederkommt, deutlicher zu spüren sind“.
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