Man On Wire - Der Drahtseilakt

Dokumentarfilm | Großbritannien 2008 | 97 Minuten

Regie: James Marsh

Dokumentarfilm über einen illegalen "Drahtseilakt": Im Jahr 1974 gelang es dem französischen Artisten Philippe Petit, auf einem Stahlseil zwischen den Türmen des World Trade Center den Behörden buchstäblich auf der Nase herumzutanzen. Kongenial ergänzt durch die Musik von Michael Nyman, rekonstruiert James Marsh den spektakulären Coup in einem abenteuerlichen Dokumentarfilm, der zugleich poetisches Manifest und Porträt eines charismatischen Träumers ist. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
MAN ON WIRE
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Discovery Films/BBC/Red Box Films/Wall to Wall
Regie
James Marsh
Kamera
Igor Martinovic
Musik
Michael Nyman · J. Ralph
Schnitt
Jinx Godfrey
Darsteller
Paul McGill (Philippe Petit) · Ardis Campbell (Annie) · David Demato (Jean-Louis) · David Frank (Alan) · Aaron Haskell (Jean-François)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Arsenal (16:9, 1.85:1, DD2.0 engl./dt.)
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Diskussion
Ein Seiltänzer braucht ein Seil und zwei Pfosten, zwischen denen er das Seil spannen kann, mehr nicht. Je nach Ehrgeiz und Leidenschaft können diese Pfosten aus Stahl sein, sie können aber auch Bäume sein – oder Türme. Beispielsweise die Zwillingstürme des World Trade Centers. Am 7. August 1974 balancierte der französische Hochseilartist Philippe Petit von Südturm zu Nordturm des WTC, acht Mal lief er in 417 Metern Höhe hin und her, kniete nieder, legte sich hin und narrte die Polizisten, die versuchten, ihn von den Plattformen aus zu fassen. Der britische Regisseur James Marsh hat um diesen historischen Drahtseilakt einen Dokumentarfilm gestrickt, der weit mehr ist als die Chronik eines mutigen, illegalen Lufttanzes: nämlich ein Abenteuerdokumentarfilm, eine wahre, unglaubliche Geschichte, ein poetisches Manifest, Porträt eines charismatischen Träumers und zugleich das Porträt der beiden zu trauriger Berühmtheit gelangten Hochhäuser. Zunächst ist der Drahtseilakt die fixe Idee eines Traumtänzers, denn als der 17-jährige Petit in einer Zahnarztpraxis durch einen Zeitungsartikel auf diesen Gedanken verfiel, standen die Türme noch gar nicht. Immer wieder zeigt Marsh Archivmaterial vom Bau des zeitweise höchsten Gebäudes der Welt, etwa die Gerippe der Stahlträger, wie sie stetig in den Himmel wachsen – und evoziert damit doch die Bilder, wie diese Gerippe am 11. September 2001 in sich zusammenstürzten und ihre Trümmer rauchend auf Ground Zero standen. Marsh führt auf diese Weise eine zweite Ebene ein, die sich jedoch nur in den Köpfen der Zuschauer abspielt: Der Anschlag auf das World Trade Center wird mit keinem Wort und keinem Bild erwähnt – eine kluge Entscheidung, denn der indirekte Fingerzeig aus der Vergangenheit wirkt weit stärker, als es die ins kollektive Gedächtnis eingebrannten Bilder auf der Leinwand je leisten könnten. In Schleifen nähert sich der Regisseur dem 7. August 1974, dem Tag, an dem „Le Coup“ stattfinden sollte. Er folgt dabei der dynamischen, temperamentvollen und pointierten Erzählung von Petit, der in den Interviews mit seinem ganzen Körper spricht. Neben Petit kommen Weggefährten zu Wort, die an der sechsjährigen Planung beteiligt waren: Seine damalige Freundin Annie Allix, sein Jugendfreund Jean-Louis Blondeau, auch einige amerikanische Mitstreiter, etwa Barry Greenhouse, der im World Trade Center beschäftigt ist und deshalb von unschätzbarem Wert für die wild entschlossene Truppe. Das Archivmaterial ergänzt Marsh mit nachgestellten Szenen; beides greift fast nahtlos ineinander. Spannend wie die akribische Planung eines Bankraubs rollt sich die Geschichte auf. Das World Trade Center wird in allen Details und mit allen Tricks ausspioniert, Wachen werden überlistet, falsche Identitäten vorgespiegelt. Petit ist einmal Journalist, um sich Zugang zu verschaffen, einmal gibt er sich als Arbeiter aus. Er geht an Krücken, die er später auf dem Dach übermütig auf der Stirn balanciert – am Rande des begehrten Abgrunds. Die Musik ist in „Man on Wire“ sehr dominant, was gerade im Dokumentarfilm schnell schief gehen kann, da ein zu aufdringlicher Score die Geschichte leicht beiseite schieben kann. Hier ist das Gegenteil der Fall, denn die Melodien des britischen Filmkomponisten Michael Nyman verzaubern den historischen Seiltanz; Bilder und Musik finden zu einer Einheit zusammen. Zwischendurch zeigt Marsh Bilder vom Werdegang des außergewöhnlichen Artisten, etwa den poetischen Tanz zwischen den Türmen von Notre-Dame oder die Eroberung der Sydney Harbour Bridge – beides Guerilla-Aktionen, anarchistische Tänze auf der Nase der jeweiligen Behörden. „Man on Wire“ ist aber auch eine Geschichte über Freundschaft und Ruhm, darüber, was passieren kann, wenn einer über Nacht zum Helden wird. Trotzdem haben seine Freunde kein böses Wort für ihn übrig, obwohl sie mindestens ebenso offen erzählen wie Petit. Annie Allix sagt einmal, dass Philippe so kreativ und exzessiv sei, „dass jeder Tag für ihn ein Kunstwerk ist.“
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