Kanun - Blut für die Ehre

Dokumentarfilm | Deutschland 2008 | 92 Minuten

Regie: Marc Wiese

Dokumentarfilm über die Wirklichkeit des Kanun im heutigen Albanien, eines traditionellen Kodex' zum Schutz der "Ehre", der die Blutrache einfordert und reglementiert. Im Mittelpunkt steht eine deutsche Ordensfrau, die zwischen Rächern und Opfern zu vermitteln versucht. Formal überzeugend, bleibt der Film gemeinsam mit seiner Protagonistin nahe bei den Betroffenen, den Opfern wie den Rächern, ergreift Partei, ohne die Möglichkeit zum eigenen Urteil zu nehmen. So absurd und schockierend die archaisch anmutende Wirklichkeit auch ist, so vermittelt der Film doch die (schwache) Hoffnung auf ein mögliches Umdenken. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Engstfeld Filmprod./BR/WDR
Regie
Marc Wiese
Buch
Marc Wiese
Kamera
Jörg Adams
Musik
Wasim Qassis
Schnitt
Jean-Marc Lesguillons
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Der Kanun ist ein mehr als 500 Jahre altes, mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht, das von einem Stammesfürsten der Skipetaren in der nordalbanischen Bergregion eingeführt wurde und sich seither in den Schluchten und Tälern der zerklüfteten Region eingenistet hat. Der Kanun sollte dazu dienen, die „Ehre“ zu schützen und im Zweifelsfall wieder herzustellen, was in einer patriarchalisch geordneten Gesellschaft offenbar wichtig war; doch fasst dieses Gesetz den Ehrbegriff äußerst weit, sodass es eher zum Fluch als zum Segen geworden ist: Schon ein unbedachter Rempler bei einer Familienfeier kann Verwandte zu Todfeinden machen und zu einer Blutschuld führen, die binnen 100 Jahren getilgt werden muss. Betroffen sind in der Regel männliche Familienmitglieder, so lange denn welche leben, die die Blutrache vollziehen können oder sie erleiden müssen, worauf sie nach einem paradox-logischen Denksystem dann an den nächsten Angehörigen weitergeben wird. Ein Staffellauf des Todes, der in Nordalbanien momentan 500 Familien betrifft und dem man sich nur entziehen kann, indem man sich ausschließlich in den eigenen vier Wänden aufhält. Auf offener Straße wird man zum Freiwild für den „Rächer“. Eine Erziehung zum Hass, die auf seltsamen Regeln fußt: So darf der Rächer sein Opfer zu Grabe geleiten und am anschließenden Leichenmahl teilnehmen, da für 24 Stunden Gottesfrieden herrscht; danach stehen er und die Mitglieder seiner Sippe auf der Abschussliste der (noch) trauernden Familie. Solch makabren Aberwitz kann man als Westeuropäer nur schwer nachvollziehen. Doch Marc Wieses eindrücklicher, mit perfekt kadrierten Bildern inszenierter Dokumentarfilm findet Argumente, die, wenn auch nicht zur Einmischung, so doch zu Urteilsbildung aufrufen. Sein Film zeigt die Ohnmacht und Angst der Betroffenen, die sich in ihren vom Wetter zerfurchten Gesichtern spiegeln. Etwa Sokol, einen 50-Jährigen, dessen Familie von Blutrache bedroht ist, und der sich entschlossen hat, Tag für Tag ins Freie zu gehen, um die Schuld einzulösen; oder Christian, ein aufgeweckter Junge, der seit acht Jahren im Haus eingesperrt ist und sich weder daran erinnern kann, jemals auf der Straße gewesen zu sein, noch an die Tat seines Onkels, die den Kanun auslöste. Wiese versucht, den Zuschauer an denkbar fremde Lebenswirklichkeiten, Welten und Werte heran zu führen. Er erzählt Lebens- und Todesgeschichten sowie tragische Anekdoten, wobei er stets nahe bei den Betroffenen bleibt, den Opfern wie den Rächern. Er ergreift Partei, wahrt aber auch eine gewisse Distanz, damit sich jeder sein eigenes Urteil bilden kann. Mitunter ist ihm auch das Mittel der Polemik recht: So wirft er einen Blick in die Asservatenkammer des Polizeipräsidiums der Provinzstadt Shkoder, in der beschlagnahmte Waffen lagern, mit denen sich mehrere Söldnertrupps gefechtstauglich ausrüsten ließen. „Kanun – Blut für Ehre“ funktioniert wie die (Anti-)Mafiafilme von Francesco Rosi, indem er Zustände schildert, aber auch Mut zu Lücke hat und den eigenen Standpunkt nicht aufdrängt. Dabei deutet er auch einen schwachen Hoffnungsstreifen am Horizont an: Eine kleine Gruppe deutscher Ordensschwestern, die sich mit dem „gottgegebenen“ Gesetz nicht abfinden will, kümmert sich um die Opfer, sucht das Gespräch mit dem Rächern und versucht zu vermitteln, wenngleich die Nonnen doch meist auf verlorenem Posten agieren. Trotz allen Engagements bleiben immer wieder Tote zurück, die sich den Nonnen anvertraut und auf sie gehofft haben. Die Ordensfrauen wollen dennoch nicht aufgeben. Sie wissen, dass in ihrem Missionsgebiet nur Versöhnung und Aufbau helfen können. Dafür arbeiten sie. So endet „Kanun“ fast versöhnlich, wenn er ein Haus vorstellt, das die Schwestern als Versteck für bedrohte Familien erworben haben. Ein karges Domizil, umgeben von einer hohen Mauer, das wenigstens kleine Gänge in eine sehr begrenzte Freiheit gewährleistet. Der ästhetisch ausgefeilte Film operiert mit einer mitreißenden Musik sowie vielen stillen Szenen, in denen umso eindrücklicher die präzise beobachteten Gesichter oder der „eingefrorene“ Alltag in den kargen Häusern sprechen; er konfrontiert mit einer archaisch geprägten europäischen Wirklichkeit – und wirkt doch auch wie Tropfen aus Glaube und Zuversicht, mit denen man den Stein des Kanun zu höhlen hofft.
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