Die Schuld, eine Frau zu sein

Dokumentarfilm | Pakistan/USA 2006 | 94 Minuten

Regie: Mohammed Ali Naqvi

Die Geschichte einer Selbstbefreiung, die um die Welt ging: Als Wiedergutmachung für ein angebliches Vergehen ihres Bruders wird die junge Pakistanerin Mukhtar Mai von den Männern eines Nachbarclans vergewaltigt. Sie weigert sich, die ihr zugedachte Rolle zu akzeptieren und sich aus Scham selbst zu töten. Mit Hartnäckigkeit und gegen viele Widerstände bringt sie die Täter vor Gericht und nutzt die Entschädigungszahlung, um in ihrem Dorf eine Schule zu bauen. Der Dokumentarfilm fokussiert auf den Wandel der machtlosen Opferfigur zu einer mutigen Frau, die plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht. Allerdings weicht der sachlich-nüchterne Blick auf die Protagonistin zunehmend einem journalistischen Feature-Stil, der sich vom internationalen Medienecho berauschen lässt. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SHAME
Produktionsland
Pakistan/USA
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Mu-nan Pic./Showtime Networks
Regie
Mohammed Ali Naqvi
Kamera
Ahmed Bashir
Musik
Janek Duszynski
Schnitt
Niharika Desai
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
Die Geschichte der Pakistani Mukhtar Mai, die nach einem so genannten „Ehrenverbrechen“ entgegen aller Widerstände vor Gericht zog, ging vor einigen Jahren um die ganze Welt – die einfache Bäuerin aus dem Dorf Meerwala im Punjab wurde zum Symbol für Selbstbefreiung, ein „role model“ für Frauen im Mittleren Osten, die zum Protest gegen archaische gesellschaftliche Konventionen aufforderte. Mais Geschichte erzählt aber auch von der Macht der Medien in einer globalisierten Nachrichtenkultur – davon, wie ein kleiner Artikel in einer lokalen Zeitung in die Kanäle der internationalen Presse geriet und dadurch die Weltöffentlichkeit erreichte. Mohammed Naqvi, ein Filmemacher mit pakistanischem Hintergrund, nähert sich dem Verbrechen ganz über die weibliche Hauptfigur an und überlässt ihr von Anfang an den notwendigen Raum, um ihre Geschichte erzählen zu können – es sind die ersten Fernsehbilder von Mai, in denen sie mit knappen Worten den Tathergang, eine öffentliche Vergewaltigung durch vier Männer, schildert. Das Verbrechen war zuvor von einem Stammesgericht beschlossen wurden – als Vergeltung für ein Vergehen ihres jüngeren Bruders. Vor allem in den ländlichen Gegenden werden diese inoffiziellen Gerichte, „Dschirga“ genannt, häufig angerufen, weil sie billiger und schneller arbeiten als die amtlichen Behörden. Diese Dorfgerichte sollen eigentlich schlichtend zwischen den Streitparteien vermitteln, doch in den meisten Fällen regiert der mächtigste Stamm. In Meerwala ist das der Mostai-Clan – niemand wagte es, gegen ihn aufzubegehren und das Urteil anzufechten, auch der eigene Vater nicht. In den zahlreichen Interviews mit Mais Familienangehörigen wird deutlich, dass die „Schande“ für die Familie weitaus schwerer wiegt als das Leid ihrer Tochter. So konnte etwa der ältere Bruder Mai wochenlang nicht unter ihre Augen treten, so sehr fühlte er sich durch die Vergewaltigung der Schwester beschämt. Viele Frauen enden nach einem „Ehrenverbrechen“ im Selbstmord; auch Mai versuchte, sich umzubringen. Den Wendepunkt beschreibt sie, als ihr klar wurde, dass das Schlimmste bereits hinter ihr lag. Sie hatte plötzlich keine Angst mehr und beschloss, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Daraufhin wurde der Imam aufmerksam und sprach über den Vorfall, ein Journalist brachte die Gruppenvergewaltigung in die Zeitung. In der Provinzstadt Multan organisierten Frauen eine Demonstration gegen Gewaltverbrechen im Namen der Tradition, und ein Richter forderte Mai dazu auf, gegen ihre Vergewaltiger auszusagen, was sie dann auch gegen den Willen ihrer Familie tat. Schließlich wurden mehrere Männer des Mostai-Clans inhaftiert. Noch bevor der Prozess begann, war die Geschichte über die internationalen Medien verbreitet worden – im Film äußern sich viele Dorfbewohner darüber sehr kritisch oder sogar verächtlich. Durch die Veröffentlichung des Falls fühlen sie sich doppelt gedemütigt, einige bezeichnen den Fall sogar als von den Medien „gemacht“. Wirklich tief dringt der Film nicht in die Struktur der Dorfgemeinschaft Meerwalas ein. Die Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Clans bleiben im Dunkeln, ebenso die Verfahrensweisen der Stammesgerichte. Doch Mohammed Naqvi geht es mehr um den Wandel einer machtlosen Opferfigur zu einer mutigen Frau, die plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht und als Heldin gefeiert wird. Naqvi hat das Dorf Meerwala jährlich besucht und seine Veränderungen dokumentiert. Mai, die in den Interviews zunehmend offener spricht und allmählich auch ihr Gesicht hinter der Burka zeigt, hat die von der pakistanischen Regierung erhaltene Geldsumme nicht für einen Neuanfang in einem anderen Dorf verwendet, sondern zwei Schulen bauen lassen, eine für Jungen, eine für Mädchen. „Nur Bildung kann verhindern, dass so etwas passiert“, sagt Mai, die als Analphabetin selbst am Unterricht teilnimmt. Außerdem wurde eine Straße gebaut und eine Polizeistation eingerichtet – letzteres hat allerdings einen schalen Beigeschmack, denn Mai kann sich aufgrund der anhaltenden Bedrohungen durch den Clan der Mostais nicht mehr ohne Polizeischutz bewegen. Überhaupt erscheint das optimistische Bild bereits ein Jahr später erheblich getrübt: die Vergewaltiger wurden freigesprochen und Mai wird kurz vor einer Reise in die USA vorübergehend unter Arrest gestellt – der Staat fürchtete um sein Image in der Weltöffentlichkeit. Gegen Ende weicht der sachlich-dokumentarische Blick Naqvis zunehmend dem Stil eines journalistischen Fernsehfeatures; Journalisten kommen zu Wort, eine Vertreterin von Amnesty International etc. Der Filmemacher scheint allzu begeistert von Mukhtar Mais prominenter Rolle in der Medienöffentlichkeit. Zuschreibungen wie „wichtigste Frau des Jahres 2005“ (die Zeitschrift Glamour) oder eine der „hundert einflussreichsten Persönlichkeiten“ (Time Magazine) lassen Mai zu einem Medienereignis werden, das sich über ihre Geschichte legt. Am Ende kehrt der Film wieder nach Meerwala zurück. Die Schulen sind gut besucht, bald soll ein Krankenhaus gebaut werden. Der Vater äußert sich ungewohnt selbstkritisch, seine Tochter wird im Dorf als eine mutige Frau bewundert und anerkannt. Mukhtar Mai hat diesen Ort verändert, so viel steht fest.
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