- | Frankreich/Deutschland 2008 | 100 Minuten

Regie: Claire Denis

Ein aus Guadeloupe stammender Zugführer und seine erwachsene Tochter führen ein harmonisches Leben in einem Pariser Arbeitervorort. Nur gelegentlich kommt es zu Auseinandersetzungen, wenn es um den Auszug der Tochter aus der gemeinsamen Wohnung geht. Dann aber flackert die Angst auf, dass der andere für immer verloren wäre und deshalb keiner den Mut aufbringe, loszulassen. Ein leiser, intensiver Film, hinter dessen vordergründiger Freundlichkeit sich latente (Lebens-)Angst offenbart, wobei er zugleich signalisiert, dass man sich seinen Ängsten stellen muss. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
35 RHUMS
Produktionsland
Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Soudaine Compagnie/Pandora Filmprod./Arte France Cinéma/WDR/(ARTE
Regie
Claire Denis
Buch
Claire Denis · Jean-Pol Fargeau
Kamera
Agnès Godard
Musik
Tindersticks
Schnitt
Guy Lecorne
Darsteller
Alex Descas (Lionel) · Mati Diop (Joséphine) · Grégoire Colin (Noé) · Nicole Dogué (Gabrielle) · Julieth Mars-Toussaont (René)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Der aus Guadeloupe stammende Zugführer Lionel scheint sein Leben in leeren nächtlichen Zügen zu genießen. In dieser Zeit passiert kaum etwas, seine Metro ruckelt durch Pariser Vororte, in der Umkleidekabine oder der Kantine sind Gespräche mit seinem Kollegen René möglich, der bald in Pension gehen wird, zu Hause wartet Joséphine mit einem rustikalen Essen, die für ihre Bemühungen mit einem neuen Schnellkochtopf bedacht wird. Ein bedächtiges Leben angesichts des bevorstehenden Ruhestands, ein Leben innerhalb der Normen, sollte man meinen. Doch Joséphine ist nicht Lionels betagte Ehefrau, sondern seine Tochter, mit der er ein bescheidenes Vorstadt-Appartement bewohnt und ein ebenso bescheidenes Leben führt. Streit gibt es nur dann, wenn das abendliche Gespräch darauf kommt, dass Joséphine doch endlich ausziehen und ihr eigenes Leben führen müsse, was die attraktive Tochter vehement ablehnt, oder das Thema mehr oder weniger geschickt auf andere Dinge lenkt. Das beschauliche Leben der beiden wird durch zwei Nachbarn komplettiert: die Taxifahrerin Gabrielle, die sich ein wenig aufzudrängen scheint, und dies nicht ohne Grund, sowie den Eigenbrötler Noé, der seit dem Tod seiner Eltern nichts in deren Wohnung verändert hat und dort selbstzufrieden mit seiner Katze lebt. Der Film von Claire Denis überrumpelt den Zuschauer mit einer gänzlich ungewohnten Friedfertigkeit. Die vier Protagonisten gehen äußerst liebevoll miteinander um, tauschen Zärtlichkeiten und Freundlichkeiten aus und haben ein offenes Ohr füreinander. Trotz ihres Migrationshintergrundes scheinen sie bestens in die französische Gesellschaft integriert; sie leben in einem Arbeiterviertel, das nicht durch Rassenprobleme auffällt, sondern höchstens durch seine Normalität. Augenscheinlich verfügt der wunderbar fotografierte und farblich feinfühlig abgestimmte Nacht-film über kein dramatisches Potential. Doch der erste Blick täuscht – wie so oft. Die Konflikte brechen auf, als Noés betagte Katze stirbt, die er zu Joséphines Entsetzen recht gefühllos im blauen Abfallsack entsorgt, und Gabrielles schon lange nicht mehr erwiderte Liebe zu Lionel zur Sprache kommt, die sich wider besseren Wissens noch immer Hoffnung macht, zumal sie die Stelle der Mutter für Joséphine früh verstorbene leibliche Mutter, einer Deutschen, übernommen hatte. Die Harmonie ist dahin, was sich auch im Verhältnis zwischen Joséphine und ihrem Vater äußerst, das latent aggressiver wird und nach dem Selbstmord von René einen Höhepunkt erreicht, der seinem Rentnerdasein keine Sonnenseiten mehr abgewinnen konnte. Am Ende sind Vater, Tochter und Gabrielle dann doch wieder zusammen und feiern im Bistro um die Ecke Renés Beerdigung. Lionel erhält dann endlich die Gelegenheit, den legendären „35 Rum“-Rekord einzustellen. Claire Denis erzählt gänzlich unspektakulär von den latenten Ängsten einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich nicht mehr ums tägliche Überleben fürchten müssen, ihren Alltag aber in eine kleine Hölle verwandeln, weil sie nicht loslassen können. Es ist ein kleiner Film über große Lieben, die sich als Ängste vor Verlusten entpuppen: die Angst vor dem Schmerz, den man einmal erfahren hat, und die Angst vor verletzenden Momenten, die unausweichlich folgen werden. Und es ist ein Film über das Leben und dessen Wechselfälle, die vorherbestimmt sind, auch wenn man so gerne am Ist-Zustand festhalten würde. Claire Denis spielt die latente (Lebens-)Angst zwar durch vordergründige Freundlichkeit herunter, leugnet sie aber nicht; allerdings gibt „35 Rum“ auch zu verstehen, dass man keine Angst vor der Angst haben, sondern sich ihr stellen sollte, weil sich erst dann die Lösung der verdrängten Probleme abzeichnet. Der überaus bewegende Film erleidet nur eine einzige, allerdings erhebliche qualitative Einbuße durch eine kurze Deutschland-Episode, als Vater und Tochter nach Lübeck reisen, um das Grab der Mutter zu besuchen. Hier wird die französische Leichtigkeit des Films nahezu pulverisiert und muss einer deutschen Textschwere Raum machen, die vielleicht an deutsche Dichter- und Denker-Vergangenheiten erinnern soll, aber lediglich deutschtümelnde Vorurteile befeuert. Ein gänzlich überflüssiger Ausflug der beiden Pariser, die besser beraten gewesen wären, nach Renés Ableben auf den Metro-Gleisen zu bleiben und in einem Pariser Vorort-Bistro ihren kleinen Roten zu trinken. Dort spielt sich eine der schönsten Szenen des Films ab: Joséphine tanzt zunächst mit Noé, hält ihn aber auf Distanz, um dann einen nahezu verführerischen Tanz mit ihrem Vater zu wagen.
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