- | Deutschland 2008 | 42 Minuten

Regie: Helene Hegemann

Eine junge Frau zieht nach dem Selbstmord ihrer Mutter zu ihrer Tante nach Berlin, wo sie auf eine Szene überspannt-exzentrischer, in Eitelkeiten und Aggressionen verstrickter Theaterleute trifft. Ein formal bestechendes Debüt, das spielerisch immer wieder die filmische Illusion durchbricht, etwa durchs Aus-der-Rolle-Fallen der hervorragenden Darsteller, durch Asynchronitäten zwischen Bild und Ton und eine achronologische Erzählstruktur. Dabei gelingt der jungen Regisseurin ein erfrischender Blick auf eine "linksresignative" Erwachsenenwelt, der sie zwischen Slapstick und Poesie souverän den Spiegel vorhält. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
credo: film
Regie
Helene Hegemann
Buch
Helene Hegemann
Kamera
Kathrin Krottenthaler
Musik
Der lustige Clown
Schnitt
Daniela Boch · Angelika von Chamier
Darsteller
Alice Dwyer (Mia) · Jule Böwe (Cleo) · Caroline Peters (Elise) · Agon Ramadani (Fritzi) · Matthias Matschke (Himbeermensch)
Länge
42 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar der Regisseurin und der Kamerafrau.

Verleih DVD
Filmgalerie451 (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Es ist die Attitüde, die zählt! Im Programm der Hofer Filmtage 2008 fielen zwei Filme aus der Reihe, weil sie ungleich offener, lebendiger und riskanter waren als all die bedeutungsschwanger bis prätentiös durchliterarisierten Filme wie beispielsweise „Der Architekt“ (fd 39 101), „Im Winter ein Jahr“ (fd 38 988) oder „Schausteins letzter Film“. Diese beiden Filme waren „Dancing with Devils“ von Klaus Lemke (Jahrgang 1940) und „Torpedo“ von Helene Hegemann (Jahrgang 1992). „Torpedo“ sorgte in Hof und danach auch in Saarbrücken für eine regelrechte Aufregung innerhalb der Festivalöffentlichkeit. Eine ungewöhnlich junge, allerdings in der Berliner Volksbühnenszene bestens vernetzte Filmemacherin dreht einen mittellangen Spielfilm, der teilweise autobiografisch davon erzählt, wie die 15-jährige Mia nach dem Tod ihrer Mutter zu ihrer Tante nach Berlin zieht und dort auf eine Szene trifft, die Hegemann mit dem schönen Terminus „linksresignativ“ charakterisiert hat. Dass Helene Hegemann die Tochter des Volksbühne-Dramaturgen Carl Hegemann ist, dass sie das Drehbuch im Alter von 14 Jahren schrieb, selbst die Regie führte, dabei auf allerlei Schauspielprominenz zurückgreifen konnte, und dass sie all dies scheinbar mit großer Selbstverständlichkeit getan hat, sorgte für einiges Rauschen im Blätterwald – die Szene hat ein neues „Wunderkind“ aus eigenem Anbau, das es in Nicolette Krebitz’ Beitrag zu „Deutschland 09“ nun gleich mit Susan Sontag und Ulrike Meinhof aufnehmen soll oder darf. Ein Pop-Hype also? Nein, denn „Torpedo“ ist tatsächlich von einer erfrischenden Unbekümmertheit im Gebrauch der Mittel, die im Kino für reichlich frische Luft sorgt. Der Film ist eine beeindruckende, zu Beginn geradezu grandiose, a-chronologische Abfolge von Szenen, die ein wirklich famoses Gespür für Timing und trockensten Humor verraten. Mia macht verrückte Dinge, springt auf PKWs herum, liefert sich wilde Verfolgungsjagden im Park, will „etwas vergewaltigt“ aussehend zur Schule kommen, kann sich bei Gesprächen manchmal nicht konzentrieren, wird von einer Lehrerin gemaßregelt, besucht eine Therapeutin, der sie erklärt: „Meine Mutter war alkoholabhängig, hat gekokst und war eigentlich nur an zwei Tagen im Monat normal. Irgendwie verantwortungsbewusst und so. Ich hab mir immer gewünscht, dass sie die ganze Zeit so ist wie an diesen zwei Tagen.“ Lange hatte sie Angst, nach Hause zu kommen, weil sie fürchtete, etwas Schlimmes könne passiert sein. Jetzt ist die Mutter tot: Selbstmord. Doch selbst wenn die Mutter „in ’nem Sarg im Saarland ’rumliegt“, löst das nur ein paar von Mias Problemen. Zum Vater kann sie nicht, weil da eine Inzest-Geschichte im Wege steht. Das kam so: Mia wollte Schriftstellerin werden, mit einem fetten Debüt-Skandal loslegen, also hat sie ihren Vater verführt. Andererseits sind die Erwachsenen, denen Mia begegnet, auch nicht ohne. Sie suchen ihre Partner per Agentur, erzählen sich Tiergeschichten mit seltsamen Pointen wie: „Wenn ich ein Kormoran wäre, ich würde es genauso machen!“ – und fragen dann in aller Unschuld: „Du, wollen wir gleich noch zusammen duschen?“ Auch die Theaterszene, in der Mias Tante verkehrt, bewegt sich auf Augenhöhe des herrschenden Irrsinns: Eitelkeiten, Unsicherheiten, Aggressionen und generell eine gewisse Überspanntheit, bei der man nie so recht einschätzen kann, ob die Resultate der Arbeit kreativ oder nur dilettantisch sind. Mia mogelt sich so durch, wehrt sich gegen Vorwürfe der Tante, die sich nicht kaputt machen lassen will, aber längst so kaputt ist, dass es schmerzt. Wie Mia ganz richtig bemerkt: „Ich will dich gar nicht kaputt machen, dazu bin ich viel zu egoistisch. Außerdem will ich das gar nicht. Du bist lange genug kaputt gegangen.“ Auch wenn „Torpedo“ vom Miteinander und/oder Nebeneinander der Generationen handelt, zeugt der Film doch von einer gesunden Portion Mitleid mit den greinenden, kotzenden, orientierungslosen und hysterischen „Erwachsenen“. Einmal heißt es sehr schön: „Wie alt bist Du denn überhaupt, Du komische Kleine, Du?“ Erst, als auch Tante Cleo im Sterben liegt, bittet Mia, die bislang immer für alles die Verantwortung übernommen hatte, deren Mitbewohnerin Elise weinend um Hilfe. Da ist der Film aber auch schon fast vorbei. Als Filmemacherin verfügt Hegemann keck über all die Stilmittel, mit denen seit Godard konventionelles Erzählen selbstreflexiv aufgebrochen wurde, die Abfolge der Szenen folgt keinem Erzählfluss, sondern scheint kontingent und unvollständig. Die Figuren fallen immer wieder aus ihren Rollen, müssen oder dürfen selbst über die Texte lachen, die sie sprechen. Tonspur und Bildspur sind nicht immer aufeinander bezogen, sondern können auch autonom laufen. So bewegt sich „Torpedo“ sehr souverän zwischen Slapstick und Poesie, hat einen geschmackssicheren Soundtrack und räumt ganz nebenher mit dem Vorurteil auf, dass Erwachsene zwar Kinder- und Jugendfilme drehen dürfen, aber Jugendliche keine Erwachsenenfilme. Vielleicht liegt Hegemanns Begabung auch gar nicht vorrangig beim Film, sondern eher auf dem Theater, denn wenn etwas von „Torpedo“ in Erinnerung bleibt, dann ist es die Liebeserklärung an drei wirklich großartige Schauspielerinnen: Caroline Peters, Jule Böwe und allen voran die faszinierende Alice Dwyer.
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