Drama | Iran 2009 | 118 Minuten

Regie: Asghar Farhadi

Eine Gruppe aus jungen Familien und zwei Singles macht von Teheran aus einen Wochenendausflug ans Meer. Eine der Frauen möchte die beiden Alleinstehenden miteinander verkuppeln und zettelt gutgemeinte Intrigen an, die zunehmend für Unwohlsein bei der Betroffenen sorgen. Als diese nach einem Beinahe-Badeunfall verschwindet, machen sich in der Gruppe Zweifel, Schuldzuweisungen und Verdächtigungen breit. Sensibles Drama um eine Gesellschaft zwischen islamischer Tradition und modernem Lebensstil nach westlichem Vorbild. Dabei stellt der Film sowohl die regressive Bedrohung einer sich öffnenden Gesellschaft durch alte Normen als auch die Risiken eines falsch verstandenen Freiheitsbegriffs zur Disposition. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DARBAREYRE ELLY
Produktionsland
Iran
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Asghar Farhadi
Regie
Asghar Farhadi
Buch
Asghar Farhadi
Kamera
Hossein Jafarian
Schnitt
Hayedeh Safiyari
Darsteller
Golshifteh Farahani (Sepideh) · Taraneh Alidoosti (Elly) · Mani Haghighi (Amir) · Shahab Hosseini (Ahmad) · Merila Zarei (Shohreh)
Länge
118 Minuten
Kinostart
06.01.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Der bunte Papierdrachen soll in der Luft bleiben, deshalb zieht ihn die junge Frau hin und her, mal lacht sie, mal blickt sie besorgt nach oben. In harten Schnitten jagt eine Nahaufnahme die nächste, als würde die Zeit gefährlich knapp. Es ist nicht das Drachensteigen, das Elly in so wechselhafte Stimmung versetzt hat. Sie ist einer Einladung zu einem Ausflug ans Meer gefolgt, jetzt will sie nach Teheran zurück. Sie kennt die Leute kaum, mit denen sie zum Strand gefahren ist, und sie hat Gründe, allein aufzubrechen. Oder möchte sie noch bleiben, mit den Kindern toben und Volleyball spielen? Das erfährt man nicht, denn plötzlich ist Elly verschwunden. Spät kommt die vierte Regiearbeit des Iraners Asghar Farhadi in die Kinos, obwohl er dafür 2009 den „Silbernen Bären“ für die beste Regie bei der „Berlinale“ gewann. „Elly“ ist kein Porträt der Titelfigur, die nach nur einem Filmdrittel eine Leerstelle und viele bohrende Fragen hinterlässt. Farhadi entwirft vielmehr das widersprüchliche Bild der modernen iranischen Gesellschaft, die sich in einer Gruppe von Wochenendurlaubern spiegelt. Am Anfang sieht man eine fröhliche Reisegruppe: drei Ehepaare, ihre Kinder und zwei Singles, die mit zwei Autos Teheran verlassen. Der rote BMW prescht vor, die Frauen – Kopftuch hin oder her – lehnen sich johlend in den Fahrtwind. Der Straßenrand wimmelt von bunten Zelten. Fast scheint es, als wolle Farhadi mit den westlichen Klischees über das iranische Alltagsleben brechen. Organisiert hat den Ausflug die muntere Sepideh, die ihren frisch geschiedenen Bruder Ahmad mit Elly, der Kindergärtnerin ihrer Tochter, verkuppeln will. Elly? Sie heißt vielleicht Elham, Elmaz oder Elmira, aber wer weiß das schon. Sepideh sorgt jedenfalls dafür, dass alle Elly bald in höchsten Tönen loben, und Sepideh erschwindelt der Gruppe auch eine Ersatzunterkunft, als die eigentliche Ferienvilla nicht bezogen werden kann: Man sei doch schließlich mit einem kürzlich getrauten Brautpaar unterwegs! Bezogen auf Ahmad und Elly ist das mehr als übereilt, aber die Flitterwochen-Lüge öffnet Türen. Man macht es sich in einem heruntergekommenen Strandhaus bequem, und während der folgenden Abendunterhaltung mit Tanz, Scharade, Kindereien und Gekicher findet sich Elly im Zentrum einer gutgemeinten Intrige wieder. Ein fragiles Idyll, das Farhadi überdies mit einigen hässlichen Vorahnungen stört. Wunschprojektionen ersetzen fundiertes Vertrauen und die Kenntnis des anderen, das wird am nächsten Tag während einer Autofahrt besonders deutlich, die Elly und Ahmad in einen nahe gelegenen Ort unternehmen. Ahmad war in Hamburg mit einer Deutschen verheiratet, die sich von ihm scheiden ließ. „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Der Satz, mit dem Ahmad seine Ex-Frau zitiert, klingt lustig, aber wenn man des Deutschen mächtig wäre, wären wohl Zweifel über die Beziehungsfähigkeit des attraktiven Endzwanzigers angebracht. Ob Elly überhaupt Interesse an Ahmad hat? Für Sepideh scheint das von untergeordneter Relevanz. Sie betätigt sich unverdrossen weiter als Strippenzieherin und versteckt, als die ungefragte Ehekandidatin sich verabschieden will, deren Reisetasche. Elly wird keine Wahl gelassen. Sichtlich irritiert, lässt sie den Drachen steigen, dann lenkt die Regie die Aufmerksamkeit auf eine Beinahe-Katastrophe: Ein Kind droht zu ertrinken, verzweifelte Männer kraulen durch die Wellenkämme, Wasser klatscht gegen die Kamera, die Spannung ist auf dem Siedepunkt. Als der Junge gerettet ist, folgt die lähmende Angst um Elly. Ist sie dem Kind hinterhergeschwommen und womöglich ertrunken? In Erfüllung ihrer Erzieherinnenpflicht? Was ist, wenn Elly einfach Reißaus genommen hat? Farhadi ist ein Meister subtil inszenierter Blicke. Die vorwurfsvollen Mienen der beiden Frauen Shohreh und Nassi sagen alles, als Indizien für die zweite, eigentlich ja erleichternde Variante auftauchen. Auch bei den Männern kippt die Stimmung von Sympathie in Skepsis. Das unklare Schicksal Ellys wird zunehmend zum Spielball egoistischer Interessen, und bald haben sich die Ansichten über Elly ins Gegenteil verkehrt. In Wirklichkeit ist es natürlich die Gruppe, die eine schlechte Figur macht. Die Kinder werden angeschnauzt, als aus ihnen nichts über Ellys Abgang herauszubekommen ist; eine Frau wird fast verprügelt, und dann verstrickt man sich in heillose Lügen, als der Kontakt zu Ellys Angehörigen zustande kommt. In der zweiten Hälfte hängt die Geschichte etwas durch. Der Kleinkrieg, der vor allem zwischen den Geschlechtern Gräben aufwirft, zermürbt auch die Zuschauer. Farhadi, der auch das Drehbuch schrieb, hätte gut daran getan, in dieser Phase der Wehleidigkeit und der gegenseitigen Schuldzuweisungen den Figuren mehr Profil zu geben. Die Schilderung einer tendenziell amorphen Gruppe machte vor Ellys Verschwinden Sinn, doch danach brechen alte Muster durch, was mit geschärften Charakteren einhergehen müsste. Sepideh bildet die Ausnahme; sie ist die Einzige, die nicht einknickt und die sich zu ihren Schuldgefühlen bekennt. Gespielt wird sie von Golshifteh Farahani, die neben Taraneh Alidousti in der Rolle der Elly die darstellerischen Glanzpunkte setzt. Man kann die Figur der Sepideh mit ihrer fast manischen Lust an der Manipulation aber auch als Konzession an ein konservatives iranisches Publikum lesen: Der Kurztrip ans Meer war Sepidehs Idee, doch als Organisatorin einer aufgeschlossenen Runde nach vermeintlich westlichem Muster ist sie gescheitert. Zweifel an der aufgeschlossenen Lebensart manifestieren sich auch im symbolträchtigen Schlussbild, in dem die Flut dem roten BMW gefährlich nahe gekommen ist. Die Räder drehen durch, und es bleibt unklar, ob man das Auto mit vereinten Kräften aus dem Treibsand befreien kann. Farhadis Film lässt gegenläufige Lesarten zu: Es geht um eine sich behutsam öffnende Gesellschaft, die von Regression bedroht ist; es geht aber auch um einen falsch verstandenen Freiheitsbegriff (hier zielt die Kritik auf die westliche Welt), der die Wünsche anderer missachtet – und Unfreiheit bewirkt. Das ist das Beste, was man über Elly sagen kann: Sie geht einem nicht aus dem Kopf.
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