Henners Traum - Das größte Tourismusprojekt Europas

Dokumentarfilm | Deutschland 2008 | 94 Minuten

Regie: Klaus Stern

Der Bürgermeister einer hessischen Kleinstadt nördlich von Kassel plant gemeinsam mit einem weltweit operierenden Architekten ein gigantisches Ferienparadies in Hessen, das durch private Investoren finanziert werden soll. Ebenso unterhaltsamer wie analytisch präziser Dokumentarfilm als eine Art spannender Wirtschaftskrimi, der als Crashkurs über "Venture Capital" funktioniert, aber auch als Studie über Größenwahn und Eitelkeit. Nebenbei geht es zudem um bundesdeutsche Mentalitäten, wobei der Film zunehmend Kritik an einer politischen Rhetorik übt, mit der die Mechanik der Macht kunstvoll verschleiert wird. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
sternfilm/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)
Regie
Klaus Stern
Buch
Klaus Stern
Kamera
Harald Schmuck
Musik
Michael Kadelbach
Schnitt
Friederike Anders
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Der Filmemacher Klaus Stern ist ein Solitär unter den deutschen Dokumentaristen. In seinem Schaffen bündeln sich zwei Vorlieben, die selten zusammen finden: Neugier auf politisch-ökonomische Gegenwartsthemen und Lust an einer dezenten Unterhaltungsdramaturgie, die seine Arbeiten ungeachtet ihrer trockenen Materie bisweilen fast wie Spielfilme wirken lässt. Sein jüngstes Werk weckt über weite Strecken sogar den Eindruck eines handfesten Dramas, obwohl sein Gegenstand nicht unsinnlicher sein könnte: die hochfliegenden Pläne eines hessischen Lokalpolitikers, der im regnerischen Nirgendwo nördlich von Kassel ein gigantisches Ferienressorts aus dem Boden stampfen will. Das riecht nach Bauausschuss, Erschließungskosten und vielen fruchtlosen Diskussionen, entpuppt sich aber ganz im Gegenteil als eine Art Wirtschaftskrimi, in dem es um Größenwahn und Eitelkeiten, sehr viel Geld, Macht und Prestige und, im Hintergrund, stets auch um bundesdeutsche Mentalitäten geht. Ein Film zur Lage der Nation, der auch ohne aktuelle Finanzkrise den gesellschaftlichen Usancen einen Hohlspiegel vor hält. Im Mittelpunkt steht der CDU-Bürgermeister von Hofgeismar, Henner Sattler, ein grundsolider, sympathischer Amtsträger mit klarer Sprache und angenehmen Manieren, ein Mann mit Bodenhaftung und Volksnähe, dem seit Jahren eine grandiose Vision den Schlaf raubt: auf dem 1000 Hektar großen Areal des Gutshofs Beberbeck „das größte Tourismusprojekt Europas“ zu errichten, ein Erholungsgelände für gehobene Ansprüche mit fünf Golfanlagen, herrschaftlichen Hotels und Gourmet-Tempeln, einer Trabrennbahn, ungezählten Sport-„Facilitäten“ und einer künstlichen Seenlandschaft, die den Ausspruch vom „Klein-Versailles“ gar nicht mehr so hanebüchen erscheinen lässt. Kosten- und Knackpunkt des Mega-Projekts im historisierenden Sandstein-Chic: rund 400 Mio. Euro, die von privaten Investoren aufgebracht werden sollen, so genanntes Venture Capital, mit dessen rauen Spielregeln sich Sattler selbst erst vertraut machen musste. Etwas guten Willen vorausgesetzt, funktioniert „Henners Traum“ als Crashkurs in Sachen Wagniskapital, wie mit geringen Eigenmitteln, großzügigen Kreditlinien, Ausfallbürgschaften und viel, viel Hoffnung millionenschwere Fantasien ins Werk gesetzt werden können. Der Film umfasst den Zeitraum von Januar 2006, als die Planungen der Bürgerschaft vorgestellt wurden, bis November 2008, ohne dass bis dahin der entscheidende Investor gefunden worden wäre. Doch ans Aufgeben will Sattler nicht denken. Warum sich der inzwischen 64-Jährige mit all seiner Energie einem solchen Projekt der Superlative verschrieben hat, lotet der Dokumentarfilm nicht primär psychologisch aus, wenngleich viele luzide Detailbeobachtungen am Rande Raum für Interpretationen eröffnen. Die chronologisch strukturierte Inszenierung ist vielmehr am quijotischen Kampf um das märchenhafte Traumprojekt interessiert, wobei eine zweite Figur als eine Art Antagonist von entscheidender Bedeutung ist: der Architekt Tom Krause, ein JetSetter, der weltweit, vorrangig aber mit den Petro-Dollars arabischer Emire Hotels, Banken und Botschaften baut. Krause, ebenfalls nicht unsympathisch, aber schwer zu greifen, ist eine schillernde Figur, die scheinbar mühelos zwischen Abu Dhabi, Amsterdam oder Moskau und deutschen Kleinstädten hin- und herswitchen kann, ohne aus dem Tritt zu geraten. Er war es, der Sattler den Floh vom „blauen Pferd“ ins Ohr setzte, wie er auch einem anderen Bürgermeister, dem seiner Heimatgemeinde Eschweiler, ein Naherholungszentrum mit morgenländischen Dimensionen aufschwatzt. Sattler greift gerne auf Krause zurück, wenn es auf dessen „situative Wendigkeit“ ankommt; er muss im Lauf der Jahre aber auch realisieren, dass Krauses Versprechungen, finanzkräftige Investoren an Land zu ziehen, nicht viel mehr als verbale Hülsen sind. So erweist sich Sterns Dokumentation neben dem spannenden Pingpong um konkrete Schritte zur Realisierung des Beberbeck-Vorhabens zunehmend als Kritik der politischen Rhetorik, die ihren unübertroffenen Meister im hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch findet. Dreimal reist dieser als mächtiger Parteigenosse von Sattler in Hofgeismar an, um mit der Ressorts-Idee auch die eigene Agenda seiner Regierung zu loben, wobei die Differenz zwischen dem kurzen Informationsabtausch vor Kochs Auftritt und seiner freien Rede jeweils Bände spricht: Hier inszeniert sich ein begnadeter Rhetor in eigener Sache, wortreich, überzeugend, aber in strategischer Absicht. In solchen Momenten bewährt sich Sterns Arbeitsmethode, der bei seinen Protagonisten ein solches Vertrauen genießt, dass sowohl Sattler als auch Krause Funkmikrofone tragen, was dem Filmdialog eine Unmittelbarkeit und Frische, aber auch manche ungeschminkte Wendung sichert – und der Kamera eine „flanierende“, fast autonome Beweglichkeit erlaubt. Das Ergebnis ist ein höchst vergnügliches Lehrstück über die Mechanismen von Macht und jener scheinbar unerschöpflichen Energien, aus dem sich ihr Antrieb speist.
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