Drama | Bosnien-Herzegowina/Deutschland/Frankreich/Iran 2008 | 104 Minuten

Regie: Aida Begic

Nach dem Krieg sind in einem abgeschiedenen Dorf im Osten Bosniens nur noch sechs Frauen, ein alter Mann und ein Kind übrig geblieben. Als ein internationaler Investor auftaucht, kommen Verdrängtes, Zorn und die Erfahrung der Wehrlosigkeit wieder hoch. Mit organischer Dramaturgie und nuancenreichem, verhaltenem Schauspiel zeigt der Film den Widerspruch zwischen der Reinheit der Natur und den traumatisierten Seelenlandschaften ihrer Bewohner. Ohne große Worte porträtiert er Anspannung und Überlebenswillen, Trauerarbeit und Wiederkehr des Verdrängten. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SNIJEG
Produktionsland
Bosnien-Herzegowina/Deutschland/Frankreich/Iran
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Mamafilm/Documentary & Experimental Film Center/Les Filmes d'Après-midi/Rohfilm
Regie
Aida Begic
Buch
Aida Begic · Elma Tataragic
Kamera
Erol Zubcevic
Musik
Igor Camo
Schnitt
Miralem Zubcevic
Darsteller
Zana Marjanovic (Alma) · Jasna Beri (Nadija) · Sadzida Setic (Jasmina) · Vesna Masic (Safija) · Emir Hadzihafizbegovic (Dedo)
Länge
104 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f (DVD CH: ab 0)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. den Kurzfilm "Ich träume nicht auf Deutsch" (15 Min.).

Verleih DVD
Trigon (16:9, 1.85:1, DD2.0 Bosnisch)
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Diskussion
In Slavno, einem Dorf im Osten Bosniens, hat der Krieg nur noch sechs Frauen, einen alten Mann und fünf Kinder übrig gelassen. Der Rest ist vermisst. Wie geht man um mit der Trauer über das Verschwinden seiner Angehörigen und Nachbarn? Wie mit der Zeit, die trotzdem weiter verrinnt? „Snow“, der erste Langspielfilm der mit zahlreichen Preisen für ihre Kurzfilme ausgezeichneten bosnischen Regisseurin Aida Begic, versucht, Antworten jenseits pathetischer Leidensmythen und investigativer Redseligkeit zu geben. In Begics mit ruhiger Hand inszeniertem Drama sprechen die Bilder, ohne zu groß zu sein für die Geschichten, die sie erzählen, während die Protagonisten im gestischen Miteinander mit sich und dem Zuschauer kommunizieren. Das Szenario ist in der wunderschönen Berglandschaft Ostbosniens angesiedelt. Die Hänge sind vom Lindgrün der Bäume überzogen, von der Moschee aus überblickt man das weite Tal, aus dem Brunnen fließt kristallklares Wasser, und die Fauna gibt den Dorfbewohnerinnen genug Früchte, um daraus, durchaus ökologisch, Marmelade, Paprikapaste und Kompott zu produzieren. Doch in den Wäldern liegen die Minen, das Gotteshaus ist zerstört, statt Dächern schützen zerfetzte UN-Planen die Bewohner der zerschossenen Häuser vor Regen, und auf der Straße fährt kaum jemand, um den Frauen ihr Eingemachtes abzukaufen. Ab und an taucht ein Erinnerungsstück auf, die Brille des vermissten Ehemanns etwa, deren Fund Hoffnung und Verzweiflung zugleich weckt. „Snow“ taucht tief ein in dieses abgeschiedene Dasein einer traumatisierten Dorfgemeinschaft, in eine Poesie der Gegensätze, die im Lauf des Films behutsam abgetragen werden. Hier die Reinheit der Natur, in denen sich die größten Kriegsverbrechen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa zugetragen haben, dort die zerklüfteten Seelenlandschaften, die diese Kriege hinterlassen haben. Deren Protagonisten gehen unterschiedlich mit der Vergangenheit um: Sabrina hat sich in einen Ausländer verliebt, um endlich aus ihrer geschundenen Heimat heraus zu kommen, Alma glaubt an den Wiederaufstieg ihres Dorfs; ihre Schwiegermutter webt aus Stoffresten mit langsamen Gesten einen Kelim, einen kunstvollen Teppich. Mit Geduld und harter Arbeit trotzen die Frauen ihrem Schicksal; um der Trauer zu entfliehen, werden die verschwundenen Männer pantomimisch nachgemacht. Doch die Gesichter sind hart, lassen eine Angespanntheit erkennen, deren Nuancenreichtum das Schauspielerinnenensemble mit verhaltener Bravour ausspielt. „An einem einzigen Tag kann man in Bosnien durch völlig gegensätzliche Gefühle gehen“, so die Regisseurin in einem Interview. „Am Morgen denkt man, man müsse dieses Land verlassen, weil alles so schrecklich ist, am Nachmittag realisiert man, dass man so stark verwurzelt ist, dass man nirgendwo anders leben könnte. (...) Diese Zerrissenheit trägt zu einer allgemeinen Anspannung bei.“ Es ist Begics Verdienst, diese Anspannung mit ruhigen Bildern zu beschreiben und den Handlungsfaden mit einer organischen Dramaturgie zu entwickeln, die ohne Gewaltmetaphorik und große Worte auskommt. Als ein internationaler Investor das Gelände kaufen will, kommt es dann doch zum Konflikt. Die französischen Hintermänner schicken einen serbischstämmigen Nachbarn als Unterhändler, jemanden, der die Sprache spricht, den sie im Dorf aber kennen. Jemand, der wahrscheinlich dabei war, als die Soldaten und Milizen zur ethnischen Säuberung hier einfielen. Vielleicht aber auch nicht. „Snow“ will nicht abrechnen, zeigt stattdessen, wie Verdrängtes und Zorn wieder hochkommen. Und die Erfahrung der Wehrlosigkeit, diesmal gegenüber den Europäern mit dem Geldsäckel, die den Serben aus dem Nachbardorf schicken, der zum zweiten Mal kommt, um das Terrain zu säubern. Doch am Lebensrhythmus der Dorfgemeinschaft scheitern Geldgeber und Unterhändler gleichermaßen. Kollektive Erfahrung und Überlebensdruck haben eine Einheit geschweißt, die auch mit billigen Intrigen nur kurzzeitig zu zerstören ist. Am Ende bekommen die Frauen eine Antwort auf die Frage, wohin man ihre Angehörigen verschleppt und wo man sie getötet hat. Eine Gewissheit, immerhin. Der Schnee, der fällt, deckt fast versöhnlich seinen weißen Mantel über Vergangenheit und Gegenwart. „Snow“ ist eine Co-Produktion zwischen Bosnien und Herzegowina, Frankreich, Deutschland und dem Iran. Regisseurin Begic ist praktizierende Muslimin, die ihre Kollegen mit dem bewussten Tragen ihres Kopftuchs zu verstörten Blicken herausfordert: „Ich habe Filme mit und ohne Kopftuch gedreht. Keine der beiden Varianten ist für eine Frau wirklich haltbar. Tragen sie kein Kopftuch, schaut ein Großteil des Teams, vor allem Männer, sie wie ein Stück Fleisch an. Tragen sie eines, werden sie als rückständig betrachtet“, bringt sie ihre Erfahrungen auf den Punkt.
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