Drifter (2007)

Dokumentarfilm | Deutschland 2007 | 80 Minuten

Regie: Sebastian Heidinger

Dokumentarfilm über drei obdachlose Jugendliche und ihren Alltag in ihrer selbstgewählten "Heimat", den Straßen rund um den Berliner Bahnhof Zoo. Aus eher assoziativen, betont distanziert und emotionslos gehaltenen Ereignisketten von Gelegenheitsjobs über die Geldbeschaffung für den täglichen "Schuss" bis zur allabendlichen Übernachtungsfrage ergibt sich ein dramaturgisch verdichteter Tagesablauf, der die Beziehungen innerhalb der Dreiecks(zweck)gemeinschaft offen legt. Eine realistische, bei aller Distanziertheit dichte Neubestimmung der "Kinder vom Bahnhof Zoo". - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Boekamp & Freunde/dffb
Regie
Sebastian Heidinger
Buch
Sebastian Heidinger
Kamera
Henner Besuch
Schnitt
Alexander Fuchs
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Wie löst man sich von einem Mythos? Die Biografie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, die mit Hilfe von Christiane F. nach Tonbandprotokollen und Recherchen der „Stern“-Mitarbeiter Kai Hermann und Horst Rieck in den Jahren 1977/78 entstand und 1981 als Kino-Sozialdrama („Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, fd 22885) verfilmt wurde, ist auch heute noch präsent, wenn man sich der „Szene“ rund um das inzwischen zum Nebenbahnhof degradierte ehemaligen Zentrum Berlins nähert. Buch wie Kinofilm haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, ohne dass beide en detail präsent sind. Das Klischee beeinflusst nicht nur die Zuschauer eines Dokumentarfilms über obdachlose Jugendliche im Westen Berlins, es (ver)leitet auch die Protagonisten selbst, die den Mythos leben und ein Stück weit, vielleicht sogar mit Stolz, kultivieren. Aileen (16), Angel (23) und Daniel (25 Jahre) sind ein lose Zweckgemeinschaft, arbeitslos, obdachlos, aber nicht heimatlos. Ihr Lebenszentrum sind die Straßen um den Bahnhof Zoo. Hier halten sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, putzen öffentliche Toiletten, machen Freier klar, um die nötige „Kohle“ für den nächsten Schuss zu verdienen, und suchen sich mitunter im nahen Asyl eine kurzzeitige Bleibe für die Nacht. Freundschaft kann sich unter diesen Bedingungen kaum entwickeln, jeder ist sich im Zweifel selbst der Nächste. Angel, der sich im bescheidenen Rahmen pflegt und sein Äußeres schon allein wegen der Freier wichtig nimmt, konnte nie nachvollziehen, was Aileen an Daniel findet. Doch wenn schon nicht Freundschaft, dann verbindet sie mit Daniel wenigsten phasenweise so etwas wie „Liebe“. Das geht am Zoo – auch ohne Freundschaft, auch ohne Sex. „Drifter“ versteht sich als „erzählerischer Dokumentarfilm“. Vor den Dreharbeiten standen das Vertrautmachen mit der Szene, das Einfügen in eine Subkultur, das Bekanntmachen mit dem Umfeld, das Akzeptiertwerden innerhalb des „Betrachtungsgegenstands“. Nach der stückweise vollzogenen Assimilation der Filmemacher wurden Interviews geführt, kristallisierten sich Protagonisten, Themenstränge heraus, und es entstand so etwas wie eine (Dreiecks-)Geschichte. Die vielen Interviews wurden am Ende der Produktion dann wie ein überflüssig gewordenes Baugerüst entfernt, es blieb eine lose, assoziative Kette von Ereignissen, die für den Zuschauer auch nicht durch Kommentare zusammengehalten werden, sondern nur durch das langsame Vertrautwerden mit den völlig filmunerfahrenen Protagonisten. Doch die „Beziehung“ zwischen dem Betrachter und dem „Betrachtungsgegenstand“ bleibt an der Oberfläche. Erst wenn sich bei Aileens unregelmäßigen Besuchen bei einer Ärztin herauskristallisiert, dass die chronisch kränkelnde tatsächlich etwas Ernstes hat und ins Krankenhaus eingewiesen werden muss, nehmen die Emotionen in Sebastian Heidingers Film eine signifikante Rolle ein. Der Abschied zwischen Aileen und Daniel an der Bahnsteigkante hat fast das Sentiment der unzähligen anderen „Trennungen“ an anderen Bahnhöfen. Was hier indes noch alles passieren wird, bleibt der Imagination des Zuschauers überlassen – der Imagination und dem Wissen um „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, in dem bekanntlich das Happy End nicht an der Tagesordnung ist.
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