Making of - Kamikaze

Drama | Tunesien/Marokko/Frankreich/Deutschland 2006 | 115 Minuten

Regie: Nouri Bouzid

Ein junger tunesischer Herumtreiber und Breakdancer gerät auf der Flucht vor der Polizei an eine Gruppe ernster Herren, die ihn unter ihre Fittiche nehmen. Bald dämmert ihm, dass er auf seine Bestimmung als Selbstmordattentäter vorbereitet werden soll. Er bricht aus seiner Rolle aus und verlangt, den Regisseur zu sprechen, schließlich sei er doch als Tänzer engagiert worden. Doch die Entwicklung hat längst eine bedrohliche Eigendynamik angenommen. Ein überzeugendes Plädoyer für ein friedliches Miteinander, das Fanatismus jedweder Art eine Absage erteilt und sich klar gegen die Vermischung von Religion und Realität ausspricht. Dabei mischt der verschachtelte Film Fiktion und (Film-)Realität untrennbar und entzieht dem Zuschauer den Boden unter den Füßen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MAKING OF, LE DERNIER FILM
Produktionsland
Tunesien/Marokko/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
C.T.V. Services /Abdelaziz Ben Mlouka
Regie
Nouri Bouzid
Buch
Nouri Bouzid
Kamera
Michel Baudour
Musik
Nejib Charradi
Schnitt
Karim Hammouda
Darsteller
Lotfi Abdelli (Batha) · Lotfi Dziri · Afef Ben Mahmoud · Fatma Ben Saïdane
Länge
115 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Filmgalerie451 (16:9, 1.78:1, DD2.0 arab.)
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Diskussion
Eigentlich ist Batha eine zutiefst gespaltene Persönlichkeit: Der 25-jährige Tunesier ist nichts und kann nichts, besitzt freilich außergewöhnliche Breakdance-Fähigkeiten, die ihn immer wieder mit der strengen Ordnungsmacht, aber auch mit seinem eigenen Männlichkeitsbild in Konflikt bringen. Er dealt mit Handys und legt sich gerne mit der Obrigkeit an, geht im Kreise seiner warmherzigen, matriarchalisch orientierten Familie auf, meidet aber den Kontakt zum Vater. Er ist glühender Nationalist und träumt von einer panarabischen Zukunft, während er seine eigene in Italien sieht. Durch den Krieg im Irak ist an den Sprung über die Meerenge zwischen Tunesien und dem europäischen Paradies freilich nur noch im Traum zu denken. Als Batha in der gestohlenen Uniform seines Cousins, eines Polizisten, eines vormittags seine Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit auslebt, gerät er erst recht ins Fadenkreuz der Polizei und muss untertauchen. Wie aus dem Nichts ist eine Gruppe gesetzter Herren zur Stelle, die ihm Unterschlupf gewährt und ihn unter ihre ideologischen Fittiche nimmt. Bald wird klar: Hier soll ein junger Mann nicht auf den rechten Weg gebracht, sondern ein Gotteskrieger und zukünftiger Märtyrer auf seine Bestimmung und das Paradies vorbereitet werden. Bis zu diesem Zeitpunkt entwickelt sich der Film des tunesischen Altmeisters Nouri Bouzid (u.a. „Bezness – Business – Das Geschäft mit der Sehnsucht“, fd 30 379) geradlinig und mitunter etwas übertrieben folkloristisch. Dann aber bricht Batha, der von den Fundamentalisten bei seinem wirklichen Namen Chokri gerufen wird, im wahrsten Sinne des Wortes aus seiner Rolle aus und verlangt, den Regisseur zu sprechen – schließlich sei er als Tänzer für das Filmprojekt verpflichtet worden und nicht als Terrorist in spe. Von diesem Zeitpunkt an offenbart das Drehbuch ein mehr als doppelbödiges Spiel, das dem Zuschauer jede Orientierung raubt, die Ebenen zwischen (Film-)Realität und (Film-im-Film-)Fiktion virtuos verschachtelt, wodurch man zu keinem Zeitpunkt mehr weiß, auf welcher Bedeutungsebene man sich befindet. Batha/Chokri, der in seinen Diskussionen mit seinem Regisseur mit dem Namen des Darstellers Lotfi angeredet wird, will seine Rolle zunehmend hinterfragen und in Frage stellen, will als gläubiger Muslim nichts zur Diffamierung der islamischen Welt beitragen. Der Regisseur glaubt hingegen an seine aufklärerische Rolle und hofft mit seinem Film die Mechanismen des Terrorismus bloßzulegen. Weltbilder und -vorstellungen sowie deren Interpretation stehen sich hier gegenüber, und auch Batha scheint längst den Überblick verloren zu haben. Letztlich ist er der kein überzeugter Selbstmordattentäter, auch wenn er der Gehirnwäsche nicht standgehalten hat, doch sein Gewissen hält ihn vom Töten ab, auch wenn er dafür einen hohen Preis bezahlt. Ob dieser Preis in der Realität eingefordert wird oder nur mit Kino-Spielgeld bezahlt wird, bleibt in der Schwebe. Die inhaltliche Zäsur des spannenden Films wird von einer visuellen begleitet: Bestimmten zunächst leuchtende Farben, eine gewisse Unbekümmertheit und Halbtotalen das Geschehen, so dominieren später Blautöne und halbnahe Einstellungen von Gesprächssituationen, die der Indoktrination dienen. Unterstützt wird Bouzid dabei von einem überzeugenden Hauptdarsteller, der in seiner Rolle aufgeht und dessen Physiognomie sich mit jeder Entwicklungsstufe zu verändern scheint. Genau wie Batha sich selbst wird er auch dem Zuschauer von Minute zu Minute fremder. Am Ende existiert kein junger Mann mehr, der eine gewisse Entwicklung durchlaufen hat, sondern man wird mit einer tickenden Zeitbombe konfrontiert, die einer ferngesteuerten Bestimmung folgt. Der Film tritt mutig für arabisch-islamische Werte ein, bietet aber zugleich deren Missbrauch vehement die Stirn und spricht sich gegen eine Vermischung von Religion und Politik aus – eine klare Absage an Fanatismus jedweder Art, nicht nur im arabischen Raum, und nicht nur in Bezug auf den Islam.
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