Animation | USA 2008 | 101 Minuten

Regie: Henry Selick

Nach dem Umzug in einen von skurrilen Bewohnern belebten Apartment-Komplex auf dem Land erlebt ein Mädchen seltsame Dinge. Verführerische (Wunsch-)Träume zeigen ihm ein ideales Leben mit seinen Eltern als perfekten Gegenentwurf zum eigenen zerfahrenen Familienalltag, doch in der "anderen" Welt bedroht das Böse seine Seele. Eine faszinierende, betörende, schrecklich-schöne Melange aus Horror, Varieté und Coming-of-Age-Geschichte, meisterhaft aufbereitet als detailfreudiger Stop-Motion-Puppentrickfilm, in dem Magie und gruselige Fantastik in die Alltagswelt eindringen und ihren morbiden Schabernack treiben. - Sehenswert ab 10.
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Filmdaten

Originaltitel
CORALINE
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Laika Ent./Pandemonium
Regie
Henry Selick
Buch
Henry Selick
Kamera
Pete Kozachik
Musik
Bruno Coulais · They Might Be Giants
Schnitt
Christopher Murrie · Ronald Sanders
Länge
101 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 10.
Genre
Animation | Fantasy | Knetanimation
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs und des Komponisten, ein Feature mit für den Film nicht verwendeten Szenen sowie ein ausführliches "Making Of". Die Special Editionen (DVD/BD) enthalten neben der "normalen" 2D eine "spezielle" 3D-Version des Filmes sowie die dafür notwendigen Anaglyphen-Brillen. Im April 2011 veröffentlicht der Verleih zudem eine BD mit dem Film in originärem (nur auf 3D Geräten abspiebaren) 3D. Diese Edition enthält ebenfalls die bereits zuvor erschienene DVD sowie die BD (2D).

Verleih DVD
Universal (16:9, 1.85:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
Universal (16:9, 1.85:1, dts-HDMA engl., DD5.1 dt.)
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Diskussion
Die grausamsten Geschichten werden für Kinder geschrieben. In „Bambi“ stirbt unvermittelt die Mutter des kleinen, hilflosen Rehkitzes, in „Pinocchio“ verwandeln sich Kinder in unheimliche Tierfratzen, in den Märchen und Moritaten von Wilhelm Busch über E.T.A. Hoffmann bis Lewis Carroll brennen unachtsame Helenen, verlieren Daumenlutscher ihre Extremitäten, werden Lausbuben zu Hühnerfutter geschreddert, versinken kleine Mädchen in einer gewalttätigen Fantasy-Welt oder werden gleich für immer und ewig vom hässlichen Sandmann geholt. Niemand sagt, dass das Erwachsenwerden leicht ist – Albträume gehören nun einmal dazu. Diese beginnen oft recht harmlos, ja sogar mitunter verlockend wie das Paradies. Die pubertierende Coraline erlebt in ihnen den perfekten Gegenentwurf zu ihrem zerfahrenen Familienalltag. Nach einem Umzug in einen altehrwürdigen, von skurrilen Bewohnern belebten Apartment-Komplex auf dem Land erlebt das Mädchen seltsame Dinge. Erst bekommt Coraline eine Puppe geschenkt, die genauso aussieht wie sie selbst, dann ereilen sie seltsame (Wunsch-)Träume, die ein ideales Leben mit ihren Eltern zeigen. Wenn sie des Nachts die winzige, eigentlich zugemauerte Tür hinter dem Wohnzimmermöbel öffnet, betritt sie eine „andere“ Welt mit „anderen“ Eltern, die sich physisch einzig dadurch unterscheiden, dass sie anstelle von Augen fest vernähte Knöpfe tragen. Dies nimmt das Mädchen gerne in Kauf, denn statt der mit ihren Computern verwachsen scheinenden „Erziehungsberechtigten“ gibt es bei den „anderen“ Eltern die Idylle im perfekten Heim. Mom kocht die köstlichsten Leibspeisen, und Daddy verzaubert die wilde Gartenlandschaft vor dem Haus in ein pittoreskes Blumenparadies. Das durch den gerade erst gemeisterten Umzug omnipräsente Wohnungschaos verwandelt sich in die ländliche Idylle der „Pink Apartments“. Selbst Wyborne, besser Wybie, der neue, irgendwie nette, aber chaotische und hyperaktive Nachbarjunge, ist im „anderen“ Zuhause umgänglich und ohne seine vorlaute Klappe ein angenehmer Zeitgenosse. So gibt es eigentlich keinen Grund, nicht für immer in diesem Schlaraffenland zu verweilen. Das Angebot der Mutter steht bereits. Die Bedingungen dafür sind freilich alles andere als harmlos; der Zweiersatz Knöpfe und die spitze, lange Nadel liegen schon bereit, um Coralines Augen zu ersetzen – wenn es das Mädchen denn endlich wünschen würde. Henry Selick hat es nicht sonderlich mit Walt Disneys heiler Welt, die selbst aus „Die Schöne und das Biest“ die latente Bedrohung zu verbannen vermag. Bei ihm geht es eher zu wie im richtigen Leben: ernst und gnadenlos. Doch wie in der Fantastik üblich, bricht durch einen Riss „das Andere“ in die grimmige Welt ein und treibt seinen makabren Schabernack. Das ist mal sympathisch morbide – wie bei Jack Skellington, der Weihnachten und Halloween mischt und fast die Weltordnung zerstört (in Selicks „Nightmare Before Christmas“, fd 31 095) –, mal eine hässliche Fratze hinter der süßlichen Gestalt der „anderen“ Mutter, die als eine Art „Puppet Master“ Kinderseelen fängt und sie als Mittel gegen ihre Einsamkeit versklavt. Als Medium benutzt das archaische Hexenwesen Puppen, die so aussehen wie seine Opfer. Auch Coraline Jones hat unwissentlich diesen „Schlüssel“ an ihrem Bett sitzen, ist jedoch nicht ganz schutzlos. Vor allem ist sie trotz ihres jungen Alters eine starke Persönlichkeit, erkennt Gefahren und hat den Mut, den kommenden Prüfungen ins Gesicht zu sehen. Sie fordert das Böse heraus, das im Begriff ist, ihre echten Eltern zu beseitigen. Doch „Coraline“ ist ein Stück weit auch ein Märchen, und da sind gute, helfende Geister nie weit. Der Engländer Neil Gaiman hat diese wunderbare Gruselgeschichte (nicht nur) für Kinder 2002 als Roman erdacht und sie mit allerlei verschrobenen Charakteren versehen, die Coraline Jones dabei helfen, erwachsen zu werden. Mit Henry Selick hat sich der kongeniale Filmemacher gefunden, um diese Welt adäquat zum Kinoleben zu erwecken. Selick ist, vereinfacht gesagt, ein Puppentrickfilmer. Doch er hat – wie einst Gepetto – die Gabe, aus totem Material etwas zutiefst Lebendiges zu machen. Er und seine Mitarbeiter lassen dank ausgefeilter Stop-Motion-Technologie vergessen, dass in „Coraline“ dreieinhalb Jahre harte Handarbeit stecken. Selbst der funkelnde Abendhimmel und der schwer über der Landschaft liegende Nebel stammen hier nicht aus dem Computer, sondern sind das Ergebnis wochenlanger Tüfteleien – das kann man wohl nur schlicht als Magie bezeichnen. Diese Magie nimmt groß und klein gleichermaßen gefangen, erfreut und erschreckt und entlässt alle in der Gewissheit, dass hinter der grimmigen Rationalität des Alltags verborgene Nischen existieren, die das Leben erst lebenswert machen. In den „Pink Apartments“ wird sich nach viel Aufregung wieder Ruhe einstellen; doch man weiß nie, wie lange die Naht hält, die den Riss zur dunklen Seite zusammenhält.
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