Lars von Triers Antichrist

Drama | Dänemark/Deutschland/Frankreich/Schweden/Italien/Polen 2009 | 109 Minuten

Regie: Lars von Trier

Eine Mann und eine Frau ziehen sich nach dem Unfalltod ihres kleinen Sohns in ein "Eden" genanntes Holzhaus in einem abgelegenen Wald zurück, um über den Verlust hinweg zu kommen. Vor allem die Frau kämpft mit Schuldgefühlen und Ängsten, die ihr Mann, ein Psychiater, zu therapieren versucht. Doch die Trauerarbeit verläuft nicht nach Plan, statt Versöhnung greift Verzweiflung um sich. Ein verstörender, mit apokalyptischen Bildern aufgeladener Horrortrip in menschliche Abgründe, dessen barock wucherndes Zeichenarsenal eine Vielzahl an Deutungen von psychologischen Lesweisen bis mythologischen Versuchen ermöglicht. - Ab 18.
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Filmdaten

Originaltitel
ANTICHRIST
Produktionsland
Dänemark/Deutschland/Frankreich/Schweden/Italien/Polen
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Zentropa Ent./Zentropa International Köln/Slot Machine/Liberator Prod./Arte France Cinema/Memfis Film/Trollhättan Film/Lucky Red/Zentropa International Poland
Regie
Lars von Trier
Buch
Lars von Trier
Kamera
Anthony Dod Mantle
Schnitt
Anders Refn
Darsteller
Willem Dafoe (Er) · Charlotte Gainsbourg (Sie)
Länge
109 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 18; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 18.
Genre
Drama

Heimkino

Die Standard DVD enthält lediglich als bemerkenswertes Extras einen dt. untertitelbaren Audiokommentar des Regisseurs und des Filmdozent Maurice Smith. Die Special Edition (2 DVDs) und die BD überzeugen indes zusätzlich u.a. durch ein ausführliches Interview mit Hauptdarstellerin Charlotte Gainsbourg (44 Min.) sowie Featurettes zu den Spezial Effekten (16 & 8 Min.) und zur Musik (13 Min.). BD und Special Edition sind mit dem Silberling 2010 ausgezeichnet.

Verleih DVD
MFA/Ascot/Elite (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
MFA/Ascot/Elite (16:9, 2.35:1, dts-HDMA engl./dt.)
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Diskussion
Bei Lars von Triers weiß man nie so genau, woran man ist. Seine Filme sind raffinierte Vexierspiele, die mit vertrauten Erzählmustern locken, um dann plötzlich Haken zu schlagen und alle Erwartungen über den Haufen zu werfen. Es gibt wohl keinen anderen Regisseur der Gegenwart, der sich mit ähnlichem Verve von Film zu Film neu erfindet oder zumindest nicht davor zurückschreckt, seine Reputation aufs Spiel zu setzen. Das hat natürlich Methode und wurzelt in Triers Charakter, dessen ironischer Sarkasmus sprichwörtlich ist. Doch weder das Wissen um die Disposition des Filmemachers noch die Kenntnis seiner zahlreichen Manifeste und „Geständnisse“ helfen weiter, wenn es um den jeweils neuen „von Trier“ geht. Für „Antichrist“ gilt das in zugespitzter Weise; nach der Premiere in Cannes rangen viele nach Luft, um sich von den apokalyptischen Bildern dieses düsteren Horrortrips zu befreien. Die Schockstarre währte indes nur kurz, um einer umso heftigeren Diskussion Platz zu machen, in der dem Film bisweilen auch offener Hass entgegen schlug. In drei Kapiteln, gerahmt von Prolog und Epilog, entfaltet sich die Geschichte eines namenlosen Ehepaars, das eingangs seinen kleinen Sohn verliert und schwer an diesem Verlust zu tragen hat. Um die Agonie seiner Frau zu kurieren, nimmt ihr Mann, ein Therapeut, die Behandlung in die eigenen Hände. Dabei wird deutlich, dass über den Verlust des Kindes hinaus schwer benennbare Ängste die Frau erdrücken. In einem „Eden“ genannten Holzhaus in einem abgelegenen Wald verläuft die Trauerarbeit jedoch nicht nach Plan. Statt Versöhnung greift Verzweiflung um sich. Die Natur selbst entpuppt sich als Quelle abgründiger Destruktion, deren morbides Gewaltpotenzial auf die Protagonisten übergreift. Wollte man es begrifflich auf Schlagwörter bringen, dann handelt „Antichrist“ von Sex und Schuld, Misogynie und Rationalität, Herrschaft und Hexerei, Paradies und Hölle. Man könnte den Film aber mit gleichem Recht als destruktiven Sturz in die geistige Umnachtung beschreiben. Oder sich auf die vom Regisseur unterbreitete Interpretationshilfe stützen, derzufolge der Film von Trier als eine Art Selbsttherapie aus tiefer Depression befreit habe. Was auch immer man im Zentrum zu erkennen glaubt, hängt entschieden davon ab, wie sehr man sich auf die barocke Fülle an Verweise und Anspielungen einlässt – inklusive der Option, auf Distanz zu gehen, weil man Trier für einen Trickster hält, dessen fintenreiches Kopf-Kino das Publikum schon einmal zu oft hinters Licht geführt hat. Eine „psychologische“ Deutung drängt sich durch die Handlung allerdings wie von selbst auf, da die beiden ersten, mit „Schmerz“ und „Trauer“ überschriebenen Kapitel die Versuche des Mannes beleuchten, seiner Frau zu helfen. Sein Credo, den Abgründen der Panik nicht auszuweichen, sondern sich ihnen zu stellen, ist von Anfang an in ein Zwielicht getaucht, weil der Mann die grundlegende Differenz zwischen Partner und Therapeut ignoriert. Auch tobt zwischen den Eheleuten ein untergründiger Machtkampf, der zunehmend symbolisch-allegorische Züge annimmt, Gender-Aspekte durchscheinen lässt und in ein Rollenspiel mündet, in dem sich die Protagonisten als Natur und Vernunft belauern. Hier klingen auf engstem Raum zentrale Diskurse der letzten Jahrhunderthälfte an: vor allem über das Verhältnis der Geschlechter, über den patriarchalen Herrschaftsanspruch versus die Reduktion des Weiblichen auf Natur in Gestalt orgiastischen Verströmens, wobei die Perspektive des Films dezidiert männlich ist, in der Triebverzicht, Kontrolle und Selbstbeherrschung dominieren. Die Anstrengungen scheinen zunächst zu fruchten, denn die Frau überwindet ihre Phobien. Doch inzwischen widerfahren dem Mann seltsame Erscheinungen: ein Reh, dem eine Totgeburt aus dem Leib hängt, läuft vor ihm weg, Blutegel saugen sich in seine Hand, ein Fuchs raunt: „Das Chaos regiert“. Das ist das Codewort, um den therapeutisch-aufklärerischen Diskurs wie eine lästige Verkleidung abzuwerfen und inszenatorisch ganz ins Gefilde des Horrorgenres abzudriften. Doch bei aller Drastik, mit der sich die Ankündigung des Fuchses als Generalschlüssel des Films entpuppt, scheint von Trier durch Überdehnungen der Handlungslogik zugleich den fiktionalen Charakter der Spirale aus Gewalt und Sex signalisieren zu wollen. Willem Dafoe schleppt sich nun mit einem Schleifstein am Bein durch den nebeligen Wald und sucht im Fuchsbau Schutz, während die blutverschmierte Charlotte Gainsbourg auf der Suche nach ihm wie eine blutrünstige Rachegöttin das Gelände durchkämmt und unaufhörlich „Wo bist Du?“ schreit. Das vor bizarren Einfällen, Blut und Sperma strotzende Kapitel gerät dabei nicht nur visuell, sondern auch thematisch an Grenzen, weil es das weibliche Begehren als kompromissloses Lustverlangen zur Quelle allen Unheils stempelt, auf das die hemmbareren männlichen Energien historisch wie aktuell mit der radikalen Beseitigung des Übels antworten. Reaktionärer hat das seit langem keiner mehr ausfabuliert. Doch der Scheiterhaufen ist nicht das letzte Bild, weshalb die misogynen Vorwürfe gegen den Film und ihren Regisseur am Kern vorbei zielen. Der schwer ausdeutbare Epilog enthüllt zumindest, dass der Preis für die Auslöschung die eigene Entwirklichung mit einschließt, auch wenn Dafoe erst jetzt ganz bei sich angekommen scheint. Von seiner Figur ausgehend, ließe sich das Ganze nämlich auch als eine Fundamentalkritik der männlichen Welterklärung lesen, die im Mantel von Rationalität und Aufklärung auf Leichenbergen thront und außer dem nackten Selbsterhalt keine anderen Regungen aufkommen lässt. „In memoriam Andrej Tarkowskji“, heißt es im Nachspann; die Widmung eines dystopischen Abgesangs an den Meister des Mystischen empfanden in Cannes viele als Sakrileg. Aber geht es von Trier mit seinen provokativen Kaskaden nicht genau darum, aus der Reserve zu locken, zementierte Überzeugungen und emotionale Panzerungen zu sprengen? Ein Garten Eden, der einem Totenreich gleicht, die zartbittere Klage-Arie „Lascia ch’io pianga“ aus Händels „Rinaldo“ als verführerischer Zuckerguss über dem in extremer Zeitlupe gefilmten Sturz des Kindes, der endzeitliche Filmtitel in Kombination mit dem Frauenzeichen, eine in Schwarz-Weiß gefilmte Natur als „Kirche Satans“, in der nicht unaufhörliche Kreation, sondern Verwesung den Ton angibt: lauter gegenläufige Kodierungen, die zum Widerspruch reizen, wenn man sich erst einmal aus der gewaltsamen Umarmung der Bilder befreit hat. Wie man es auch dreht und wendet: „Lars von Triers Antichrist“ ist der interessante Film des Jahres, weil er härtere Nüsse zu knacken gibt als alle anderen Filme zusammen.
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