Fräulein Stinnes fährt um die Welt

Abenteuer | Deutschland 2008 | 90 Minuten

Regie: Erica von Moeller

Dokumentarspielfilm über die abenteuerlich-strapaziöse Reise von Clärenore Stinnes (1901-1990), die 1927 als erster Mensch die Welt im Auto umrundete. Begleitet wurde die durchsetzungsfreudige junge Pionierin von dem schwedischen Kameramann Carl-Axel Söderström, der das Projekt auf Zelluloid bannte. Seine faszinierenden Dokumente bieten, frei von jeglichem Exotismus, seltene Einblicke in fremde Welten und zeigen von Tourismus und Infrastruktur gänzlich unberührte Gegenden. Demgegenüber fallen die inszenierten Spielszenen trotz der sehr präsenten Darsteller ein wenig blass aus, was dem Genuss der abenteuerlustigen Geschichte freilich nichts anhaben kann. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
taglicht media/WDR
Regie
Erica von Moeller
Buch
Sönke Lars Neuwöhner
Kamera
Sophie Maintigneux
Musik
Andreas Schilling
Schnitt
Gesa Marten
Darsteller
Sandra Hüller (Clärenore Stinnes) · Bjarne Henriksen (Carl-Axel Söderström) · Martin Brambach (Journalist) · Andreas Schlager (Julius Aussenberg) · Robert Beyer (Viktor Heidlinger)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Abenteuer | Dokumentarfilm | Road Movie
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
„Ich heiße Stinnes und fahre im Auto um die Erde. Noch Fragen?“ Das lakonische Statement der kettenrauchenden jungen Frau mit Pagenkopf, die Hosen und eine Männerkrawatte trägt und offenbar nicht auf den Mund gefallen ist, verfehlt nicht seine Wirkung. Den Journalisten verschlägt es die Sprache. Eine Erdumrundung in einer klapprigen Serien-Limousine der 1920er-Jahre! „Noch Fragen?“ Szenen wie diese sind wie gemacht für die burschikose Aura von Sandra Hüller. Sie spielt Clärenore Stinnes (1901-1990), die erste Frau, die den Globus umrundet hat, als durchsetzungsfreudige Pionierin, wenn es sein muss skrupellos und immer gerade heraus, als Inbegriff der modernen Frau, die in den „Roaring Twenties“ wie Pilze aus dem Boden schossen. Im Vergleich zur echten Stinnes, von der sich diverse Filminterviews erhalten haben, wirkt Sandra Hüller weniger spröde, fast wie ein verzogenes Kind, dass seine Chimären gegen den Widerstand der Erwachsenenwelt mit Trotz und unbändiger Energie verteidigt. Im Gepäck nimmt die 26-jährige Industriellentochter, die nach dem Tod des Vaters von ihren Brüdern aus der Firma gedrängt wurde und bereits beachtlichen Ruhm als erfolgreiche Rennfahrerin genoss, zwei Mechaniker und den schwedischen Kameramann Carl-Axel Söderström mit, der das halsbrecherische, dafür generalstabsmäßig durchgeplante und von Sponsoren finanzierte Projekt auf Zelluloid bannen soll. Das Ergebnis sind Aufnahmen, die seltene Einblicke in fremde Welten bieten, die den Einzug der Zivilisation noch vor sich haben. Die vollständig erhaltenen Dokumente zeigen vom Tourismus und Infrastruktur gänzlich unberührte Gegenden und begeistern durch das Fehlen jeglichen Exotismus. Immer wieder müssen Einheimische das Auto durch Matsch und Wüstensand anschieben, während sich die Reisenden mit den lokalen Größen und Vertretern der Kolonialmächte ein Plauderstündchen leisten. Originales Fotomaterial, Wochenschau-Berichte und Zitate aus Tagebüchern lassen das auch heute noch ungewöhnliche Unternehmen hautnah miterleben. Sie sind der schillernde Mittelpunkt des verspielt-heiteren Dokumentarspielfilms von Erica von Moeller, die sich nach „Hannah“ (fd 38 318) erneut einer eigenwilligen Frauenfigur widmet. Die inszenierten Spielszenen fallen dabei eher blass aus, was wohl der Budget-Knappheit geschuldet ist, dem Genuss der abenteuerlustigen Geschichte aber nichts anhaben kann – wenn auch die notorisch wiederkehrenden Landkarten mit den immer gleichen Animationen irgendwann doch die Geduld strapazieren. Die gute Stimmung des Quartetts ändert sich, als bereits am zweiten Tag bei Prag die Kupplung versagt. Stinnes hat es eilig und streicht kurzerhand das Mittagessen. Sie will Sibirien noch vor Einbruch des Winters durchqueren. Um auf mindestens 40.000 gefahrene Kilometer zu kommen – die Zahl, die dem Erdumfang entspricht –, fährt sie Umwege über Beirut, Damaskus und Bagdad. Die Männer beginnen zu meutern, die Techniker springen in Moskau ab. 40-Stunden-Etappen, Hunger, Durst, Regen und diplomatische Verwicklungen gehören nicht zu ihrer Vorstellung von einer glamourösen Reise. Auf dem zugefrorenen Baikal-See in Sibirien versinkt die Limousine beinahe in einer Eisspalte, was die standesbewusste Clärenore immerhin über ihren Schatten springen lässt: Sie bietet ihrem Kameramann das „Du“ an. Per Schiff geht es unerschrocken nach Amerika weiter. In den Bergen von Peru muss der Weg zuweilen mit Dynamit frei gesprengt werden, das Trinkwasser kommt aus dem kochenden Kühler. Überfälle, Krankheiten und Motorschäden sorgen für die nötigen retardierenden Momente und befördern die Wandlung des selbstherrlichen, vom naiven Ehrgeiz getriebenen Fräuleins zu einer nachsichtigen und lebenserfahrenen Erwachsenen. Nach der Durchquerung Nordamerikas geht es von New York mit dem Dampfer nach Le Havre. Im Sommer 1929 erreichen Clärenore Stinnes und der verheiratete Söderström, inzwischen ein heimliches Liebespaar, nach über zwei Jahren endlich Berlin. Stinnes wird als weibliches Pendant zu Charles Lindbergh, der im selben Jahr den Atlantik überquerte, frenetisch gefeiert, nur um wenig später völlig in Vergessenheit zu geraten. Erica von Moeller setzt dieser frühen, sich um Konventionen nicht scherenden Weltbürgerin ein würdiges Denkmal, auch wenn sie zu viele Lücken in der biografischen Zeichnung hinterlässt, die auf eine Fortsetzung als klassischer Dokumentarfilm hoffen lassen; zumal es noch genug unberücksichtigtes Material gibt, etwa die über tausend Fotos, die Söderström zusätzlich schoss. Von einem Hollywood-Remake à la „Jenseits von Afrika“ (fd 25 508) ganz zu schweigen.
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