Still Walking

Drama | Japan 2008 | 114 Minuten

Regie: Hirokazu Kore-eda

Drei Generationen einer japanischen Familie kommen zusammen, um den Todestag eines Sohns zu feiern, der starb, als er einem Kind das Leben rettete. Während man kocht, isst, redet und des Toten gedenkt, offenbaren kleine Gesten, Andeutungen und Halbsätze die Risse und Verletzungen innerhalb des Familiengefüges. Meisterlich inszeniertes Kammerspiel, das minutiös und minimalistisch die feinen Verwerfungen innerhalb familiärer Beziehungen aufspürt und einen filigranen Realismus entfaltet, der kaum authentischer sein könnte. Der aufmerksame Blick auf das "normale Leben" ist dabei von liebevoller Zuneigung geprägt. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ARUITEMO, ARUITEMO
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
TV Man Union
Regie
Hirokazu Kore-eda
Buch
Hirokazu Kore-eda
Kamera
Yutaka Yamazaki
Musik
Gonchichi
Schnitt
Hirokazu Kore-eda
Darsteller
You (Chinami Kataoka) · Hiroshi Abe (Ryota Yokoyama) · Yoshio Harada (Kyohei Yokoyama) · Yui Natsukawa (Yukari Yokoyama) · Kazuya Takahashi (Nobuo Kataoka)
Länge
114 Minuten
Kinostart
18.11.2010
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Noch hat Hollywood ihn nicht „entdeckt“, und die Chancen dafür, dass das so bleibt, stehen nicht einmal schlecht. Denn die Art, wie der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda seine faszinierenden Filmerzählungen gestaltet, ist so grundlegend unkalifornisch, dass die „Borgs“ der Unterhaltungsindustrie wenig Interesse verspüren dürften, ihn zu assimilieren. Dabei gelingt Kore-eda, der regelmäßig auf europäischen Festivals vertreten ist (in Cannes war er mit „Distance“, 2001, und „Nobody Knows“, fd 36 980, in Venedig mit „Maboroshi – Das Licht der Illusion“, fd 33 186, zu sehen), seit Jahren das Kunststück, ruhiges, unaufgeregtes Kino zu inszenieren, ohne sich dabei zu verkünsteln und gerade dadurch zu langweilen. Die Werke des ehemaligen Dokumentarfilmers bestechen stattdessen durch ihre unprätentiöse Natürlichkeit. Es sind wunderbar fließende, präzise arrangierte Tonbildkompositionen, deren Rhythmus sich organisch aus dem zu ergeben scheint, was sie widerspiegeln. In „Nobody Knows“ konfrontiert der Regisseur in unerbittlicher Konsequenz, aber ohne unnötiges Pathos mit dem Schicksal von vier Kindern, die von ihrer Mutter in einem Tokioter Apartment sich selbst überlassen bleiben. Es ist kein gutes Licht, das der Film auf das moderne Tokio und die japanische Gesellschaft wirft. Die Sozialkritik aber bedarf hier keiner polemischen Patina, sie steckt im Kern der Erzählung. Auf ganz andere Weise nähert sich Kore-eda dem japanischen Samurai-Mythos, dessen Ehrbegriff er in „Hana“ (fd 38 860) auf burleske Weise entzaubert. Wieder anders, aber doch in derselben, so charakteristischen Mischung aus Schonungslosigkeit und Zärtlichkeit, blickt Kore-eda nun in „Still Walking“ hinter die Fassade einer japanischen Mittelstandsfamilie. Wie jedes Jahr versammeln sich die Yokoyamas am Todestag des ältesten Sohns im Haus der Eltern. Vor 15 Jahren ist Junpei gestorben, als er einem Jungen im Meer das Leben rettete. Jetzt reist Junpeis Schwester mit ihrer Familie ebenso zum gemeinsamen Gedenken an wie Ryota, der jüngere Bruder des Toten, mit Frau und Stiefsohn. Es wird gekocht, gegessen, Ryota besucht mit der Mutter das Grab Junpeis, geht mit dem Vater an den Strand. Hinterher sitzt man erneut zusammen, isst, schwatzt, lacht. Es knallen auch mal Türen, und Ryota erhebt für einen Moment die Stimme, aber Streit bricht nie aus. Anders als etwa Thomas Vinterbergs „Das Fest“ (fd 33 486), der in vielem wie ein Gegenmodell zu Kore-edas Film erscheint, steuert „Still Walking“ auf keine Katharsis zu. Die – zutiefst japanische – Tragik des Verschweigens wird nicht durchbrochen. Aussprachen bleiben im Keim stecken. Es gibt auch nicht das eine große Thema, das dräuende Tabu, das einen Showdown provozieren könnte. Die Konflikte lauern überall, im Kleinen, zwischen den Sätzen, im Tonfall, in Blicken und im Wegblicken. Ryotas Vater, ein pensionierter Doktor, das merkt man schon bei der frostigen Begrüßung, ist von seinem Sohn enttäuscht, weil der sich nie sehen lässt, nicht anruft und weil er nicht Arzt geworden ist. Ryota dagegen fühlt sich ungeliebt: Der Schatten seines toten Bruders, des idealisierten Helden, erdrückt ihn. Ryotas Mutter wiederum lässt ihren Sohn spüren, dass sie seine aus erster Ehe verwitwete Frau und deren Jungen nicht als vollwertigen Teil der Familie akzeptiert, so freundlich sie sich ihnen gegenüber auch gibt. Es sind kleine Gesten, sarkastische Halbsätze, die auf lakonische Weise ihren wahren Standpunkt verdeutlichen. Im Lauf des Tages zeichnen sich noch etliche weitere solcher Risse im Gefüge dieser Drei-Generationen-Familie ab, die gerade dadurch, dass Kore-eda sie nicht durchs Vergrößerungsglas betrachtet, nachvollziehbar werden. Die meisterhafte Regie beschränkt sich weitgehend darauf zuzuhören und zuzuschauen. Behutsam, zurückhaltend und ohne zu verurteilen. Wo Vinterberg seinem Film mit ruppiger Handkamera den dokumentarischen Flair eines Homevideos verlieh und den Zuschauer dadurch in seiner Rolle als Betrachter gleichzeitig vereinnahmte und auf Distanz hielt, entfaltet Kore-edas unauffällige Inszenierung im engen Raum des kleinen japanischen Hauses einen Sog, der einen mitten hineinzieht in dieses einfache, wahre Leben. Das zurückhaltende, minimalistische Spiel der großartigen Darsteller, die wunderbar stimmigen, so vielsagend nuancierten Dialoge – das alles könnte kaum authentischer sein. Und doch hat Kore-edas filigraner Realismus nichts Sprödes, nichts Unbarmherziges. Die wie zum Atemholen eingestreuten malerischen Kameraeinstellungen von Yutaka Yamazaki und die melancholischen Gitarrenklänge von Gontiti offenbaren vielmehr die tiefe poetische Seele des ganz normalen Lebens: ungeheuer traurig und ungeheuer liebenswert.

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