The One Man Village

Dokumentarfilm | Libanon/Deutschland 2008 | 86 Minuten

Regie: Simon El Habre

Meditativer Dokumentarfilm über den einzigen Bewohner eines libanesischen Dorfs, das während des Bürgerkriegs nahezu vollständig zerstört und von seinen Bewohnern aufgegeben wurde. Aus der ruhigen Langzeitbeobachtung der bäuerlichen Arbeitsabläufe des Mannes und gelegentlicher Besuche von Verwandten sowie im Anhören alter Familiengeschichten entwickelt sich eine eindringliche Studie über Vergangenheitsbewältigung und das (Über-)Leben in einem Land, in dem die Wunden des Bürgerkriegs noch lange nicht verheilt sind. (O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SEMAAN BIL DAY'IA
Produktionsland
Libanon/Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Beirut DC/mec film
Regie
Simon El Habre
Buch
Simon El Habre
Kamera
Bassem Fayad · Marc Karam
Schnitt
Simon El Habre
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
Man schaut im Morgengrauen durch beschlagene Scheiben in ein kleines Bauernhaus. Irgendwo bellt ein Hund, dann krähen die Hähne, der Tag beginnt. Es ist Winter im Libanon; die Berge sind mit Schnee bedeckt. Ein Mann mit einem buschigen Schnurrbart und einem Pferdeschwanz versorgt die Kühe, sägt Holz und bereitet sich einen Kaffee zu. Dann raucht er eine Zigarette und erzählt. Das Dorf Ain el-Halazoun wurde während des libanesischen Bürgerkriegs (1975-90) nahezu völlig zerstört. Jetzt besteht es fast nur noch aus Ruinen. Nur ein Mann lebt dort noch: Semaan, der Onkel des Regisseurs Simon El Habre. Der fand in seiner Familie eine Metapher für die Nachkriegszeit und den Umgang mit der Vergangenheit im heutigen Libanon. Semaan lebt seinen bäuerlichen Alltag konsequent gegen eine lange Geschichte von Zerstörung und Hass, hat sich nach Jahren in der Stadt bewusst für ein Dasein in der Einsamkeit entschieden. Er liebt Tiere, die Katze, die Kühe, seine Hühner, das Pferd, und ist zufrieden, auch wenn seine Verwandten ihn immer wieder überreden wollen, sich eine Frau zu nehmen und eine Familie zu gründen. Listig weicht Semaan aus. Er lebt im Einklang mit sich und mit seinen Erinnerungen, mit den früheren Bewohnern und den Toten, seinen Eltern beispielsweise, die man auf einem Foto sieht. Sie wurden niemals gemeinsam fotografiert; erst nach ihrem Tod fanden sie in einer Fotomontage zusammen. „The One Man Village“ ist kein Film einfacher Wahrheiten. Die Befragten weichen den Antworten nach den Ursachen der Gewalt aus, warum Drusen, Christen und Muslime plötzlich übereinander herfallen konnten. Ganz offensichtlich wissen sie keine Antwort. Die Erinnerung an den Krieg ist mit Scham verbunden. Einem zerstörte das Erdbeben 1955 das Haus. Er baute es wieder auf, nur um 1982 im Bürgerkrieg endgültig umgesiedelt zu werden. Jetzt kehrt er in sein zerstörtes Haus zurück und bestellt den Garten. Heute, viele Jahre nach der offiziellen Versöhnung und dem Ende des Bürgerkriegs, kommen die ehemaligen Dorfbewohner, fast alle nähere oder weiter entfernte Verwandte der El Habre-Familie, regelmäßig zurück, um ihr Land zu bewirtschaften und die Ruinen ihrer Häuser zu besuchen. Allerdings verlassen sie den Ort vor Sonnenuntergang – die Vergangenheit ist für die meisten unwiederbringlich verloren. So wird das kleine Dorf mit seinen ehemaligen Bewohnern auch zur Metapher für Bürgerkriege in anderen Regionen dieser Welt, eine Sammlung von Geschichten des Überlebens; und zur Metapher auf einen grundsätzlichen Wandel, markiert diese Entwicklung doch das Ende einer Jahrhunderte alten landwirtschaftlichen Kultur. „Unsere Kinder und Enkel haben kein Interesse an all dem“, sagt ein Mann melancholisch. Einfühlsam und unaufdringlich dokumentiert Simon El Habre über mehrere Monate hinweg das Leben zwischen den Ruinen, hört den alten Familien- und Dorfgeschichten zu, hält die Besuche enger Familienangehöriger und die anderer Menschen mit einer einfachen Kamera fest, die eindringlich ist, nie aber aufdringlich wird. Auf einen Kommentar, der die Wunden des Bürgerkriegs zur Schau stellen würde, wird verzichtet. Auch der Ton spielt eine entscheidende Rolle, transportiert die Stille und schafft die fast meditative Ruhe, die den Film so angenehm und letztendlich hoffnungsvoll macht. Die Landschaft wird zum Gesicht, die Gesichter werden zur Landschaft. Die Seele des Films ist freilich der Onkel – und die Ruhe, die er ausstrahlt. So entsteht eine fast meditative, dabei durchaus humorvolle Langzeitbeobachtung über das Leben zwischen den Ruinen. Dem Regisseur gelingt es, über die teilnehmende Beobachtung zu verdeutlichen, wie gegenwärtig die Vergangenheit im Libanon und wie dünn die Schicht des Friedens über den unbewältigten Konflikten ist. „The One Man Village“ nimmt den Zuschauer mit auf die Reise; am Ende verlässt man fast mit Bedauern das Dorf und seinen einzigen Bewohner in einer langen Autofahrt über die zahlreichen Kurven einer schmalen Gebirgsstraße.
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