Dokumentarfilm | USA 2009 | 115 Minuten

Regie: Lucien Castaing-Taylor

Dokumentarfilm über Schafherden in den Bergen des US-Bundesstaats Montana und das Leben ihrer Hirten. Die Kamera beschränkt sich darauf, die Tiere und Menschen beim Leben in und mit der imposanten Naturlandschaft zu beobachten; auf Off-Kommentare oder Interviewpassagen wird verzichtet. Dabei folgt der Film einer Dramaturgie der Ernüchterung: Je länger man die Herden beobachtet, umso deutlicher werden die Härten, Gefahren und Beschwernisse hinter der schieren Naturschönheit. Trotz einiger Längen ein intensives Filmerlebnis. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SWEETGRASS
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Peabody Museum Cambridge
Regie
Lucien Castaing-Taylor · Ilisa Barbash
Buch
Lucien Castaing-Taylor · Ilisa Barbash
Kamera
Lucien Castaing-Taylor
Schnitt
Ilisa Barbash
Länge
115 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Es gibt etwas in der Physiognomie von Schafen, was ihren Gesichtern einen komischen Ausdruck verleiht. Ein Dokumentarfilm über Schafe läuft daher leicht Gefahr, sich in eine unfreiwillige Karikatur zu verwandeln. Wenn man zu Beginn von „Sweetgrass“ einem Schaf hautnah beim Kauen zusieht (und zuhört), erscheint das zunächst als ebenso schlichtes wie betörendes Naturschauspiel. Dieses Tier ist so ganz bei sich selbst, dass man neidisch werden könnte. Doch dann entdeckt es die Kamera und erstarrt. Die mediale Moderne durchbricht das Idyll. Eigentlich ein starkes Symbol, zumal es sich eher beiläufig aus der Beobachtung ergibt. Allerdings glotzt das Schaf derart verdutzt in die Kamera, dass man sich nicht wundern muss, wenn man plötzlich die Titelmelodie von „Shaun das Schaf“ im Ohr zu hören vermeint. Der Film von Ilisa Barbash und Lucien Castaing-Taylor handelt aber keinesfalls bloß von Schafen. Die Natur um die Beartooth-Berge im US-Bundesstaat Montana ist ein weiterer „Hauptdarsteller“. Mit ihrer kargen Schönheit, den blauschimmernden Bergrücken, den weiten Wäldern und den zwischen steilen Hängen lang ausgestreckten Tälern, über die sich die riesige Schafherde wie eine weiße Woge ergießt, schlüpft sie anfangs in die Rolle der anmutigen Schönheit. Aber auch hier weicht der arkadische Traum zunehmend der Irritation. Wenn die Schafe auf dem Weg zur Bergweide an einem steilen Anstieg zwischen Gestrüpp und Geröll feststecken, Bären nachts die Schafe reißen und die Schäfer an der Einsamkeit und ihren schmerzenden Gelenken irre zu werden drohen, präsentiert sich die Natur von ihrer unbarmherzigen Seite. Damit wäre man dann auch bei den eigentlichen Protagonisten des Films. Es sind, auch wenn sie selten ins Bild kommen und wenig reden, die Schafhirten. Der Mensch kann eben nicht anders. Selbst wenn er die Kamera auf eine Herde Schafe richtet, fotografiert er am Ende doch wieder nur sich selbst. Es ist weniger die Natur als die Art, wie der Mensch – Hirte und Kinozuschauer – sie wahrnimmt, das, was sie mit ihm anrichtet, worum es in diesem Dokumentarfilm geht. Die Landschaft, wieder mal, als Spiegel der menschlichen Seele. Castaing-Taylor und Barbash hörten im Frühjahr 2001 erstmals von einer Gruppe norwegischer und irisch-amerikanischer Schafhirten in Montana. Sie fuhren hin, lernten sie kennen, waren „angetan von dem reizvollen, aber auch beschwerlichen Leben dieser Menschen“ und begleiteten sie seitdem. Neun Filme entstanden aus dieser Begegnung. „Sweetgrass“ ist der einzige, der außerhalb von Museen oder Kunstgalerien gezeigt wird. Ungewöhnlich genug ist er trotzdem. Über die Dauer von fast zwei Stunden kommt er ohne Score und Off-Kommentar aus. Nicht einmal Interviews finden statt. Wenn man die Hirten, die mit ihren Stiefeln, Hüten und Pferden eher an Cowboys erinnern, sprechen hört, dann miteinander. Im Zelt, auf der Weide, über Funk. Oder am Telefon. Die Kamera gibt sich als neutraler Beobachter. Direct Cinema mit Schafen statt Rock-Stars. Natürlich ist der Film in Wirklichkeit alles andere als neutral. Es genügt ihm nicht, eine aussterbende Tradition filmisch zu archivieren, folgt vielmehr einer klaren Dramaturgie der Ernüchterung. Was so romantisch mit grasenden Schafen und süßen Lämmchen auf der Schaffarm begann, endet in den Bergen mit minutenlangen Flüchen und Schimpftiraden eines völlig erschöpften Hirten, der seine Schafe „Mädels“ nennt, um sie aufs Öbszönste beschimpfen zu können. Die Kamera zeigt ihn nicht bei diesem verzweifelten Gefühlsausbruch. Stattdessen fährt sie immer weiter zurück zu einem Panoramablick über die Berge, deren erhabene Schönheit so jedoch in eine andere Perspektive rückt. Später hört und sieht man den Mann, wie er mit seiner Mutter telefoniert und dabei fast in Tränen ausbricht. Homosexualität spielt in „Sweetgrass“ keine Rolle, doch in der Art, wie der Film den Mythos vom idyllischen Hirtenalltag entzaubert, erweist er sich als dokumentarischer Bruder von „Brokeback Mountain“ (fd 37 478). Allerdings endet der Film nicht mit der Krise, findet zurück zu ruhigeren, harmonischeren Momenten und damit zu jener Ambivalenz, die ihn trotz Längen zu einem herrlich fotografierten, bisweilen anstrengenden, aber zugleich ungeheuer lebendigen Kinoerlebnis macht.
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