Jugendfilm | Estland 2007 | 102 Minuten

Regie: Ilmar Raag

Eine Klasse vergreift sich regelmäßig an einem stillen Mitschüler, bis sich einer der Jungen auf dessen Seite schlägt. Dadurch eskaliert der Zweikampf zwischen ihm und dem Anführer der Klasse. Ein in nüchternen, dokumentarisch wirkenden Bildern gedrehter Film, der jegliche Erklärungsmuster beiseite lässt. Psychologisch etwas zu eindimensional, verschenkt er zwar einen Teil seines Potenzials, lenkt dafür aber sehr aufmerksam den Blick auf typische Verhaltensmuster Jugendlicher sowie auf die Ignoranz der Erwachsenen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
KLASS
Produktionsland
Estland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Amrion/Eesti Televisioon
Regie
Ilmar Raag
Buch
Ilmar Raag
Kamera
Kristjan-Jaak Nuudi
Musik
Martin Kallasvee · Paul Oja · Timo Steiner
Schnitt
Tambet Tasuja
Darsteller
Vallo Kirs (Kaspar) · Pärt Uusberg (Joosep) · Lauri Pedaja (Anders) · Paula Solvak (Thea) · Mikk Mägi (Paul)
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Jugendfilm | Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Ascot Elite
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Diskussion
Joosep, etwa 17 Jahre alt, wird in der Schule gedemütigt, jeden Tag. Nicht bloß durch gelegentliche Beleidigungen, sondern mittels dumpfer Gewalt. Einer gegen alle: Die Jungs halten zusammen und Joosep fest, während ihm einer einen Tritt oder einen Schlag verpasst, täglich wenigstens einmal. Derweil stehen die Mädchen giggelnd daneben und schauen zu. Warum? Weil Joosep still und unsportlich ist, „ein Freak“ eben, wie seine Mitschüler sagen. Aber auch deshalb, weil man lieber auf der Seite der angeblichen Gewinner steht. Nur Kaspar kann sich dieses grausame Spiel nicht länger mit ansehen und schlägt sich eines Tages auf Jooseps Seite. Damit macht er sich nicht nur die gesamte Klasse um das Alphamännchen Anders zum Feind. Auch seine Freundin Thea wendet sich von ihm ab. Diese Geschichte spielt nicht in irgendeiner verwahrlosten Ghetto-Schule, sondern vermutlich an einem Gymnasium, irgendwo in Estland; dies lässt das Niveau des Lehrstoffs vermuten. Aus Sicht der Erwachsenen ist es eine ganz normale Klasse: Es gibt gute und weniger gute Schüler, gestylte und weniger gestylte. Die Ignoranz der Erwachsenen bringt der Film prominent ins Spiel. Die Lehrer wundern sich ausgerechnet über Joosep und greifen auch später nur hilflos ein. Die Eltern der beiden Hauptfiguren – sonst sieht man keine – stoßen niemals durch den pubertären Schutzpanzer ihrer Kinder hindurch, an den sie sich vermutlich längst gewöhnt haben. Hinzu kommt, dass gerade Joosep und Kaspar es zu Hause nicht leicht haben. Dennoch verweigert sich der Film des estnischen Regisseurs Ilmar Raag jeglicher psychosozialer Motivfindung. Die Aggressivität von Anders und seinen Laufburschen ist einfach da, ebenso Jooseps totale Passivität. Lediglich Kaspars schlechtes Gewissen ist das Ergebnis einer nicht weiter beschriebenen Wandlung. Man kann sich über den Realitätsgehalt des Films streiten; denn es ist seltsam, dass kein weiterer Mitschüler Gewissensbisse zeigt, niemand sonst die streng hierarchische Struktur innerhalb der Klasse anzweifelt und dass alle nichts anderes zu tun haben, als sich immer neue Gemeinheiten gegen Joosep auszudenken. Aber ganz abwegig ist es eben auch nicht. Was die innere psychologische Plausibilität angeht, fordert der Film an einigen Stellen arg heraus. Beispielsweise darin, dass selbst Kaspars Freundin sich hartnäckig weigert, Mitgefühl oder wenigstens Verständnis aufzubringen und ihn schließlich im Chor mit den anderen als „Schwuchtel“ beschimpft. Oder dass die Mitschüler selbst angesichts des nahenden Showdowns, der jeden treffen könnte, apathisch herumsitzen. Befremdlich ist auch, dass sich die beiden Hauptfiguren sogar in größter Not und nach gemeinsten Unterstellungen nie an irgendeinen Erwachsenen wenden. Genau diese Mechanismen sind es andererseits aber wohl, die jene unendliche Wut gären lässt, die sich in immer neuen Schulmassakern entlädt. Stilistisch versucht Ilmar Raag sich an einem nüchternen, fast dokumentarischen Stil nach Art von „Elephant“ (fd 36 420) oder „Kids“ (fd 31 598), angereichert durch Bildverlangsamungen und -beschleunigungen im Stil mancher Videoclips. Der Film lässt dabei alle Erklärungsversuche beiseite. Man kann eine beiläufige Szene, in der kaum zehnjährige Jungs sich gegenseitig brutal verprügeln, im Gegenteil sogar als Behauptung verstehen, dass dies nun mal die aktuellen Zustände an einer normalen (estnischen) Schule seien: die Lehranstalt als Brutstätte von Sadismus und Grausamkeit. Auch vom französischen Film „Die Klasse“ (fd 39 090) unterscheidet sich „Klass“ durch die Fixierung auf den ungleichen Hahnenkampf zwischen Anders und Kaspar inklusive der gnadenlosen Eskalation und dem unausweichlichen tragischen Ende. Es bleibt ein zwiespältiger Eindruck: Die Eindimensionalität des Films verschenkt sicherlich das Potenzial des Stoffs. Zugleich sind es gerade die Sprachlosigkeit und die unüberbrückbaren Verhaltensmuster, die wesentlich sind für all die unerklärlichen Dinge, die an Schulen passieren.
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