Wendy and Lucy

Drama | USA 2008 | 80 Minuten

Regie: Kelly Reichardt

Eine junge Frau strandet auf ihrem Weg nach Alaska in einer Stadt in Oregon. Als sie wegen Ladendiebstahls verhaftet wird, geht ihre geliebte Hündin verloren, und sie beginnt, wieder auf freiem Fuß, eine verzweifelte Suche. Ein leises Drama, dessen zurückhaltende, realistische Inszenierung weder um Mitleid für ihre Figur buhlt noch aufdringlich als sozialer Appell daherkommt. Vielmehr entwirft der meisterlich inszenierte Film glaubwürdig und intensiv die Tragödie einer Frau, die aus sozialen und zwischenmenschlichen Netzen herauszufallen droht. Indirekt wirft er dabei auch Fragen nach gegenseitiger Verantwortung auf. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
WENDY AND LUCY
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Field Guide Films/Film Science/Glass Eye Pix
Regie
Kelly Reichardt
Buch
Kelly Reichardt · Jonathan Raymond
Kamera
Sam Levy
Schnitt
Kelly Reichardt
Darsteller
Michelle Williams (Wendy) · Walter Dalton (Security Guard) · Will Oldham (Icky) · Larry Fessenden (Mann im Park) · John Robinson (Andy)
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
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Diskussion
Kelly Reichardt behauptet, sich bei der Wahl ihrer Filmprojekte nicht zuletzt davon leiten zu lassen, dass der Stoff eine Rolle für einen Hund enthalten müsse. Ihre goldbraune Promenadenmischung Lucy hasse es nämlich, allein zu Hause gelassen zu werden. Das klingt wie eine PR-Anekdote, aber angesichts der einfachen Bedingungen, unter denen die Filmemacherin arbeitet, kann man sich vorstellen, dass „Hundesitting“ zum logistischen Problem werden könnte. Nachdem sie jahrelang erfolglos versuchte, in Hollywood ein Nachfolgeprojekt für ihren Erstling „River of Grass“ (1994), eine charmante feministische „Bonnie und Clyde“-Paraphrase, auf die Beine zu stellen, begnügte sie sich damit, Kurzfilme auf Super8 zu drehen. In dem Format wollte sie auch „Old Joy“ (fd 38 971) realisieren, bevor ihr Kameramann sie überredete, für den zweiten Spielfilm immerhin auf Super16 aufzustufen. Gedreht wurde dennoch mit einer winzigen Crew und bei natürlichem Licht, und unter solchen Umständen entstand auch „Wendy and Lucy“. Zum läppischen Budget von 300.000 Dollar passt, dass Lucy die gleichnamige Titelrolle spielt, nachdem sie in „Old Joy“ hinter den beiden Protagonisten hergetrottet war. In der anderen Titelrolle einen veritablen Hollywood-Star zu sehen, ist hingegen etwas irritierend, aber ein umso eindringlicherer Beweis für die Überzeugungskraft von Kelly Reichardts unprätentiösem Naturalismus, dass sie Michelle Williams’ Star-Status sofort vergessen lässt. Wendy ist mit ihrem Hund in einem klapprigen Auto von Indiana, im Herzen der USA, nach Alaska unterwegs, wo sie auf einen Job in einer Fischfabrik hofft. Weil sie nur wenige Hundert Dollar besitzt und ihren Wagen auch als Schlafgelegenheit nutzt, kommt es einer Katastrophe gleich, als in Oregon, unweit der US-Pazifikküste, der Motor den Geist aufgibt. Das verleitet sie zu einem Kleindiebstahl, der ein weiteres Malheur nach sich zieht: Nachdem sie einige Stunden unbeaufsichtigt war, ist Lucy plötzlich verschwunden. Diese minimalistische Tragödie, die wie „Old Joy“ auf einer Kurzgeschichte von Jonathan Raymond basiert, erinnert an „Fahrraddiebe“ (fd 1272); Kelly Reichardt räumt Ähnlichkeiten zu „Umberto D“ (fd 2596) ein, einem anderen neorealistischen Klassiker. Sie und Raymond hätten sich zur Vorbereitung außerdem Klassiker des Neuen Deutschen Kinos angeschaut, aber beeinflusst seien sie in der Hauptsache „davon, in Amerika zu leben und mit anzusehen, wie der Graben zwischen Reich und Arm immer größer wird“. Reichardt hat mehrfach geäußert, dass die Abscheu gegenüber Armen, die sich nach Hurrikan Katrina gegen dessen Opfer gerichtet habe, den Anstoß zu diesem Film gegeben habe. Die Handlung von „Wendy and Lucy“ nehme jene beim Wort, die meinten, es bedürfte nur des Eigenengagements, um sich aus den Fängen der Armut zu befreien. Das klingt nach einer filmischen Versuchsanordnung, doch die eindringliche, anhaltende Wirkung des leisen Films ergibt sich daraus, dass er keinerlei offenkundige Lesarten anbietet und schon gar nicht vordergründige Absichten spiegelt. Man kann spekulieren, dass Reichardt aufgrund eigener Erfahrungen eine besondere Affinität zu ihrer Protagonistin verspürt, denn sie hat gesagt, dass sie in ihrem Leben schon „genauso pleite wie Wendy“ gewesen sei und in New York Jahre lang ohne eigene Wohnung, angewiesen auf Unterkunft bei Freunden, gelebt habe. Doch wenn Wendy sich mit dem Parkwächter eines Drogeriemarkts über die wirtschaftliche Misere austauscht, sind die kurzen Dialogsätze nicht als politische Analysen gedacht. Statt Zeichen des ökonomischen Niedergangs ins Bild zu rücken, beschränkt sich Reichardt darauf, nüchtern die anonyme Banalität der Handlungsorte abzubilden. So kommt in dem Film alles auf die Erzählperspektive gegenüber der Protagonistin an. Wendy ist in fast jeder Einstellung zu sehen, aber Kelly Reichardt behält ihr gegenüber eine genau dosierte, diskrete Distanz. Dass die junge Frau kontaktscheu und spröde ist, wird schon in der ersten Sequenz klar, in der sie auf eine Gruppe junger Landstreicher stößt, und selbst gegenüber dem Parkwächter, der ihr unaufdringlich hilft, vermeidet sie Augenkontakt. Über ihre persönlichen Hintergrund erfährt man nicht mehr als das, was sich aus einem kurzen Telefonat mit ihrem Schwager und ihrer Schwester erschließen lässt. Der Film buhlt, mit anderen Worten, nicht um Sympathie für diese Figur und er heischt auch nicht um Mitleid, denn obwohl Reichardt andeutet, welche Gefahren jungen obdachlosen Frauen drohen, bleibt die Tragödie, die sich im Lauf von zwei Tagen abspielt, ganz und gar unspektakulär. Andererseits ist die Situation, in der sich Wendy wiederfindet, zu speziell, als dass sie sich verallgemeinern ließe. Aber gerade weil der Film nicht um Mitgefühl wirbt und keine Repräsentativität behauptet, kann Williams ihrer Figur schließlich eine Präsenz verleihen, die implizit mit einer fundamentalen Frage konfrontiert, die Reichardt explizit als Thema dieses Films beschrieben hat: „Worin besteht die Verantwortung, die wir als völlig Fremde für einander haben?“
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