The Man From London

Krimi | Ungarn/Frankreich/Deutschland 2007 | 132 Minuten

Regie: Béla Tarr

Ein Gleisrangierer wird Zeuge eines Mordes und kommt dadurch an einen Geldkoffer. Doch der unerwartete Reichtum hilft ihm nicht, seinen deprimierenden Lebensverhältnissen zu entkommen. Nach einem Kriminalroman von Georges Simenon entwirft der Film eine Film-noir-Geschichte, deren kriminalistische Elemente sich freilich aufs erzählerische Skelett beschränken, während die eigentliche Spannung aus den inneren Konflikten der Hauptfigur entsteht. In kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bildern, die bisweilen mehr grafisch als gegenständlich wirken, und hypnotischen Kamerabewegungen entsteht die pessimistisch-existenzialistische Zustandsbeschreibung einer von Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit geprägten Welt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
A LONDONI FÉRFI | L' HOMME DE LONDRES
Produktionsland
Ungarn/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
TT Filmmûhely/13 Prod./Cinema Soleil/Von Vietinghoff Filmprod./Black Forest Films
Regie
Béla Tarr
Buch
Béla Tarr · László Krasznahorkai
Kamera
Fred Kelemen
Musik
Mihály Vig
Schnitt
Ágnes Hranitzky
Darsteller
Miroslav Krobot (Maloin) · Tilda Swinton (Camélia) · Ági Szirtes (Mrs. Brown) · János Derzsi (Brown) · Erika Bók (Henriette)
Länge
132 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Krimi | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Wenn sich die Kamera zu Beginn langsam vom Wasserspiegel erhebt, um dann minutenlang die Außenwand eines Passagierdampfers hinaufzukriechen, ist bereits etwas Essenzielles über Maloin, die Hauptfigur von „The Man From London“, erzählt. Über die Langsamkeit seines Lebens, das ebenso tonnenschwer und unbeweglich scheint wie das massive Schiff, das Béla Tarr und sein Kameramann Fred Kelemen in unterschiedlichen, geradezu flirrenden Erscheinungsformen aufleben lassen – mal sieht man sich an die Gestalt eines riesigen Wals erinnert, ein anderes mal an eine schroffe, unbezwingbare Felswand. Maloins Gesicht, das später in zahlreichen Nahaufnahmen eingefangen wird, bleibt dagegen bis zuletzt undurchdringlich. Doch gerade weil in seinem versteinerten Gesicht kaum eine Regung oder so etwas wie „Ausdruck“ zu finden ist (sieht man von dem subtilen Spiel der Augen ab), wird die Aufmerksamkeit umso stärker auf sein Innenleben gerichtet. Der Blick des Zuschauers wird dabei auf Maloins Blick umgelenkt, auf seine Wahrnehmung der Welt als eine von Starre, Monotonie und Perspektivlosigkeit bestimmte Unendlichkeit – ähnlich wie das Meer, das Béla Tarr entgegen aller Kinokonventionen nicht als Ort von Projektionen und Sehnsüchten in Szene setzt, sondern als „entgrenztes“ schwarzes Nichts, eine monochrome schwarze Fläche. „The Man From London“ basiert auf dem 1933 veröffentlichten Roman von Georges Simenon und erzählt von Maloin, der als Gleisrangierer eines Bahnhofs am Hafen arbeitet. Nacht für Nacht sitzt er in seinem Stellwerkhäuschen, stellt die Weichen und beobachtet dabei das nächtliche Geschehen. Als er zufällig Zeuge eines Mordes wird und dadurch an einen Geldkoffer gelangt, gerät für ihn das Leben in ebenso hoffnungsvolle wie krisenhafte Bewegung. Der ungarische Regisseur hat aus der düsteren Kriminalgeschichte Simenons einen gewaltigen Film über das Leben eines „kleinen Mannes“ gemacht. Tarrs Affinität zum sozialrealistischen bzw. dokumentarischen Kino, von dem er sich über die Jahre hinweg immer weiter entfernt hat, ist in seinen Milieuschilderungen deutlich sichtbar, in der Tristesse des Arbeitsalltags sowie der Enge und Freudlosigkeit der familiären Beziehungen. Doch Tarr überführt die mikrokosmischen Verhältnisse ins Existenzielle; es geht um Schuld, Mitschuld, um Vergebung und Sühne und um die Vergeblichkeit, dem eigenen Leben zu entkommen. Eine pessimistische Perspektive also, der Tarr jedoch eine gewisse Größe und Monumentalität verleiht. Visuell entspricht „The Man From London“ nämlich kaum der Beschränktheit der angekränkelten Lebensverhältnisse. Tarr schöpft vielmehr alle grundlegenden Möglichkeiten des Kinobildes aus: das Spiel mit Licht und Schatten, das die Schwarz-Weiß-Kontraste extrem hart zur Geltung bringt, die Beschaffenheit des Films als „bewegtes Bild“, die in hypnotischen Kamerabewegungen ihren Ausdruck findet, eine bestechend präzise Bildkomposition. Stilelemente des Film noir verbinden sich hier mit dem bildnerischen Vokabular der Fotografie der 1920er-Jahre, mit Einflüssen von Bauhaus und Konstruktivismus. Beeindruckend ist vor allem, wie die Kamera von Fred Kelemen den Raum organisiert bzw. desorganisiert. So tauchen wiederholt Aufnahmen von Gittern, Fensterkreuzen oder Zäunen auf, die sich vor das Bild schieben und es dabei regelrecht fragmentieren – manchmal verliert man darüber die Orientierung, versteht das Bild schlichtweg nicht mehr, bis die Kamera wieder zu Maloin findet und ihn in seinem Gleiswärterhäuschen verortet. Von Simenons Kriminalgeschichte lässt Tarr nur noch das Gerippe übrig, das Motiv der Schuld und das atmosphärische Setting, die nächtliche Szenerie mit all ihrem Schatten und Nebel. Die genreübliche Spannung wird in die Hauptfigur selbst verlegt, in ihre Konflikte und Krisen. Dabei fungiert das Licht in diesem Anti-Krimi wie eine ganz eigene Figur und legt sich wie ein Subtext über den Plot. Tag und Nacht unterscheiden sich von der Lichtstimmung her eigentlich kaum. Einzige Ausnahme ist eine Szene, in der Maloin mit dem Geldkoffer von der Nachtschicht nach Hause kommt und sich ins gleißende Licht seines Schlafzimmers zurückzieht. Er zieht seine schweren Stiefel aus und legt sich erschöpft ins Bett. Das Bild ist überbelichtet, fast weiß, doch dann betritt seine Frau das Zimmer und schließt die Fensterläden. Das Licht wird buchstäblich weggeschlossen und Maloin ist nun wieder ganz von der Dunkelheit umhüllt.
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