Das Vaterspiel

Drama | Deutschland/Österreich/Frankreich 2007 | 117 Minuten

Regie: Michael Glawogger

Ein Student mit Vaterkomplex hat ein Computerspiel entwickelt, das virtuelle Rachefantasien an Vaterfiguren ermöglicht. Sein Schicksal verknüpft sich mit dem anderer Personen, die ebenfalls schwer am Verhältnis zu ihren Vätern tragen. Auf vier Zeitebenen angesiedelte Roman-„Adaption“ um Protagonisten, die auf unterschiedliche Weise von Verbrechen der NS-Zeit tangiert sind. Über Litauen, Deutschland, Österreich und die USA spannt sich eine virtuos komponierte fragmentarische Erzählung voller Brüche, in der es um den Holocaust, um Schuld, Widerstand und Versagen geht sowie um die Reflexion darüber geht. - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
DAS VATERSPIEL
Produktionsland
Deutschland/Österreich/Frankreich
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
tatfilm/Lotus Film/Polaris Film
Regie
Michael Glawogger
Buch
Michael Glawogger
Kamera
Attila Boa
Musik
Olga Neuwirth
Schnitt
Vessela Martschewski
Darsteller
Helmut Köpping (Ratz) · Sabine Timoteo (Mimi) · Ulrich Tukur (Jonas Strohm) · Christian Tramitz (Kramer) · Itzhak Finzi (Lucas)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Der gebürtige Grazer Filmemacher Michael Glawogger arbeitet wechselweise als Dokumentarist und Regisseur von Spielfilmen. In seinen Spielfilmen „Nacktschnecken“, „Slumming“ (fd 38 120) und „Contact High“ (fd 39 349) hat er mit den Möglichkeiten eines mehrstimmigen, fiktionalen Erzählens mit mehreren Protagonisten experimentiert. Diese Erfahrungen nutzt er jetzt bei der Verfilmung von Josef Haslingers Roman „Das Vaterspiel“, dessen Handlung zu vier unterschiedlichen Zeiten (1941, 1959, Mitte der 1980er-Jahre, 1999) in vier verschiedenen Ländern (Litauen, BRD, Österreich, USA) spielt. Es geht um die Vernichtung der europäischen Juden (speziell, um die Pogrome 1941 in Litauen), um die Frage des möglichen und verpassten Widerstands, um Schuld und Sühne – und die Echos, die diese historischen Ereignisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts produziert haben. Vielleicht ist „Das Vaterspiel“ sogar eine gegenstrebige Fortsetzung von „Das weiße Band“ (fd 39 527), die in ihrer irritierenden Offenheit einlöst, was Haneke nur bedeutungsschwanger dahingeraunt hat. Glawogger zäumt die Geschichte nämlich von hinten auf, erzählt vom Ministersohn und ewigen Studenten Ratz, der es zu nicht allzu viel gebracht hat, an einem horriblen Vaterkomplex laboriert und unvermittelt mit dem Verbrechen des 20. Jahrhunderts konfrontiert wird. Ratz’ Vater wiederum ist ein sozialdemokratischer Minister in Österreich, der vielleicht einmal als Moralist in die Politik ging, aber längst zum Zyniker der Macht wurde. Ratz hat ein Ego-Shooter-Spiel entwickelt, um wenigstens in seiner Fantasie mit dem Vater abrechnen zu können. Im Winter 1999 erreicht Ratz ein Anruf aus New York. Seine ehemalige Studienfreundin Mimi hat buchstäblich einen alten Nazi im Keller, ihren litauischen Großvater, der als Kriegsverbrecher gesucht wird und dessen Versteck jetzt dringend renoviert werden muss. Viele Jahre zuvor, in den 1950er-Jahren, hatte ein Mann namens Jonas Strohm ein Büro in der Ludwigsburger Zentralen Erfassungsstelle für NS-Verbrechen die Geschichte seines in Litauen ermordeten Vaters erzählt. Die Identität des Verantwortlichen ist bekannt. Auf hochinteressante Weise gelingt Glawogger ein virtuoses Spiel mit den unterschiedlichen Realitäts- und Zeitebenen; er suggeriert unangenehme Fragen über vergleichbare Dispositionen zur Gewaltausübung, stellt Zusammenhänge her und beharrt entschieden auf Differenzen. Ganz nebenbei erzählt er vom Niedergang einer Partei (SPÖ) und einer Generation, die einmal auf der Basis moralischer Empörung eine bessere, gerechtere Welt schaffen wollte. Wo Josef Haslinger in seinem Roman „Das Vaterspiel“ ein komplexes, aber in sich stimmiges Österreichbild entwarf, löst Glawogger es filmisch wieder auf, indem er die Versuche, sich einen Reim auf das Gezeigte zu machen, ins Leere laufen lässt. Immer wieder wagt der Film irritierende Sprünge aus dem spröden Realismus in die Welt des Virtuellen, mitunter verweilt die Kamera etwas zu lange auf bestimmten Alltagsobjekten, als hätten sie eine Bedeutung fürs Geschehen, die sich dann jedoch nicht erschließt. Ein türkis bezogener Sessel ist ein türkis bezogener Sessel ist ein türkis bezogener Sessel. Solche visuellen Leerstellen wirken als Störungen innerhalb eines Erzählflusses, der mit großer Geste über mehr als ein halbes Jahrhundert verfügen will. Alles hängt irgendwie miteinander zusammen, behauptet die Erzählung. Man kann das alles aber nicht vergleichen, sagt der Film. So kippt er ins Fragmentarische, Vieldeutige, stellt mehr Fragen, als er Antworten gibt, bleibt auf Distanz zu den Figuren, die – wie Mimi – aus einem Computerspiel oder wie Ratz aus der „Lindenstraße“ stammen könnten. Familie, Politik, Schuld und Moral – wie hängt das zusammen? Da sind die Vatermord-Fantasien, da ist der Schutz des Großvaters, da ist das Sich-Schuldigfühlen an der Ermordung des Vaters. Da sind die Massenhinrichtungen in Litauen, da sind die virtuellen Erschießungen der digitalen Vater-Avatare. Da sind ausgelöschte Familien, kaputte Familien und Familien, die zusammenhalten. Glawogger hat „Das Vaterspiel“ nicht verfilmt, er hat den Roman einer intensiven Lektüre unterzogen. Nach dem Sehen von „Das Vaterspiel“ sollte man „Das Vaterspiel“ noch einmal lesen. Und mit einer bösen Enttäuschung rechnen.
Kommentar verfassen

Kommentieren